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SENOR (Paris/Athen): Durch Freestyle die Essenz einfangen

, by Katia Hermann

Paris-Athen

SENOR wurde 1983 in Paris von griechischen Eltern geboren und zog mit 5 Jahren nach Athen. Er wuchs in einer Kunst-affinen Familie auf, seine Mutter war Malerin und die Familie pendelte viel zwischen Athen und Paris. In Paris entdeckte der junge SENOR Graffiti und seine Mutter kaufte ihm mit 12 Jahren das Buch „Paris Tonkart“, die für den jungen Graffiti-begeisterten eine Bibel des französischen Style Writing wurde. Das Buch wurde 1991 von Tarek Ben Yakhlef herausgegeben und war das erste Buch in Frankreich über die junge französische Graffiti Szene und die dritte Publikation weltweit über das Thema nach „Subway art“ und „Spraycan art“ aus den USA. SENOR fing 1995 an zu taggen, seine ersten Pseudonyme waren KITER und KEMO. Ein paar Jahre später, 1998, gab er sich den Namen SENOR, abgewandelt von spanischem Wort „Senior“, das Herr, Monsieur bedeutet. Er liess das i weg und erschuf SENOR, sein Künstlername bis heute. 1999 gründete er in Athen die Crew TBD (The Brain Damaged) mit der er hauptsächlich Tags und Bombings im Stadtraum hinterließ. Später lernte er durch Freunde des Griechisch-Französischen Gymnasiums in Athen Mitglieder der 1994/1995 gegründeten Crew DFP (Don’t Fake the Phunk) aus Athen kennen, dessen Arbeit er seit den 90er Jahren schon sehr schätzte. Er freundete sich mit ANTE, KERTS und TARÉ an, malte oft mit ihnen und integrierte die Crew 2003.



Im Jahre 2000 zog der junge Writer nach Paris und lebte dort bis 2010. Dort besuchte er ein Jahr lang eine Kunstschule und entschied sich dann für den Bereich Grafikdesign in der LISAA (Institut Supérieur des Arts Appliqués) in Paris, eine Fachhochschule für angewandte Kunst, wo er bis 2006 studierte. Danach entschied er sich für ein dreijähriges Studium der bildenden Kunst an der staatlichen Schule Ecole des Ateliers des Beaux Arts, wo er ein Diplom in Lithografie erwarb.

Während seiner Studienzeit praktizierte SENOR weiterhin Style Writing und begann andere Buchstaben mit neuen Namen auszuprobieren, wie z.B. TOOHIGH, SOUL, N’JOY, DTOX und KISS. Schon 2003/2004 machte er erste Abstraktionsversuche an der Wand mit mehr Gestik, Körpereinsatz und anderen Techniken. Er zerstach Sprühdosen, um mit dem plötzlichen Farbstrahl zu improvisieren. Schon damals wollte SENOR in der Praxis des Style Writing nicht stagnieren und sich von zu starren Konventionen im Style Writing befreien und mehr experimentieren.

SENOR besuchte 2004 Berlin und malte zum ersten Mal an der East Side Gallery, was ihm die ersten Kontakte mit der lokalen Szene einbrachte. Die verschiedenen Berliner Styles haben SENOR nachhaltig beeindruckt, ebenso wie die Arbeit der IND-Crew und des Jazz Style Corner, die er für ihre Improvisation und das Spiel mit Musik und Rhythmus besonders zu schätzen weiß. SENOR kam mehrmals in die deutsche Hauptstadt und traf auch einige Berliner Writer in Athen, mit denen er weiterhin in Kontakt steht und den künstlerischen Austausch pflegt wie z.B. mit GATE, BSOS und PRALL.



Die Wichtigkeit des Sketchens

Die ständige Wiederholung und somit der künstlerische Stillstand bedeutet für SENOR Langeweile und somit den Tod. Nachdem er in den 90er Jahren jahrelang im klassischen Stil in abgewandelter Blockschrift oder im Semi Wild Style und ab Mitte 2000 im Complex Wild Style gemalt hat, sucht er immer wieder nach einer Erneuerung der Formensprache für seine Werke seit 20 Jahren. Auch wenn er immer Freestyle ohne Skizze oder Entwurf an die Wand geht, mit mehreren Ideen einer Komposition im Sinn, betont er in der Publikation „Seismograffiiti“ (Pokedexer Fitiipedia.Dons.Net, 2018) die Bedeutung des Skizzieren für das Piece malen und das Finden einer eigenen formalen/visuellen Sprache:

„Das Sketchen war schon immer das A und O für die Entwicklung des Schreibstils. Wie in jeder anderen Disziplin auch, muss die Gestaltung der Buchstaben geübt werden, wenn man bessere Ergebnisse erzielen will. Es ist wie bei einem Sportler, der sich auf höchstem Niveau messen will und jeden Tag ins Fitnessstudio geht, um zu trainieren. Oder noch besser, wie ein Wissenschaftler, der unzählige Stunden in seinem Labor verbringt, um neue Erkenntnisse zu gewinnen und seine Forschung voranzutreiben. Es sind die „Flugstunden“. Sketchen ist auch der einzige Weg, um eines Tages seinen eigenen persönlichen Stil zu finden. Nur wenn man neue Dinge zuerst auf dem Papier ausprobiert, kann man dies mit Erfolg auf einer Wand oder etwas anderem wiederholen. Meiner Meinung nach ist eine Skizze nur einmal zu machen, sie hat mit deiner Psychosynthese in diesem speziellen Moment zu tun. Deshalb arbeite ich Freestyle, wenn ich ein Piece male, sonst würde ich mich zu Tode langweilen.“



Durch Freestyle die Essenz einfangen

SENOR arbeitet vorrangig mit der Linie neben der Farbe, das Zeichnen ist dominant in seiner Arbeit, auch in seinen Pieces, und doch finden sich viele malerische Ansätze vor allem nach 2013. Die impulsive, dynamische, gestische Arbeit mit Farbe erinnert an den abstrakten Expressionismus, und auch futuristische Darstellungsweisen für Bewegung und Dynamik mit geometrischen Formen sind in einigen seiner Werke zu spüren. Dynamisch, spontan und impulsiv ausgeführt, verwendet SENOR zunehmend Techniken mit Acrylfarbe und Werkzeugen wie Rollen und Pinsel neben der Sprühdose. Neben vielen monochromen filigranen Outliner-Throw ups mit Sprühdose, arbeitet SENOR für seine Pieces meist mit 2 bis 5 Farben. Die Farbpalette ergibt sich meist aus Restfarben von Grundfarben aus Acryl, die er immer vorrätig hat, und die für jede Wandarbeit erst während des Malprozesses definiert und angemischt wird.



Ab 2013 werden die Pieces von SENOR abstrakter, die Buchstaben verschmelzen teils ineinander, sind stilisierter, entfremdet und mehr in die Vertikale getrieben. Der Künstler wollte bewusst die Lesbarkeit der Buchstaben brechen, an der Dynamik der Formen und dessen Übertreibung arbeiten und spielt auch mit Fehlern, die während des Prozesses nun manchmal passieren. „Fehler sind wichtig, sie werden nicht einfach übermalt, sondern eingebettet im Aufbau der Komposition, um ein neues Gleichgewicht zu finden und aus dem initialen Fehler letztendlich eine Stärke zu ziehen“ erklärt der Writer. Man muss Risiken eingehen und Scheitern hinnehmen, um neuartige Bildresultate zu erreichen, um nicht starr zu bleiben, indem was man schon kann oder glaubt zu können. SENOR entschied sich künstlerisch nicht so stark im Graphischen verhaftet zu bleiben, sondern sich weiter von der Buchstabendarstellung zu lösen, sich zu öffnen, Graffiti freier und malerischer zu denken und sich bewusst an die bildende Kunst anzulehnen. So erschafft er mit einer sehr persönlichen Handschrift ein eigenes Universum von Bildern, die er wie ein Architekt mit abstrahierten geometrischen Formen und Farbfeldern konstruiert. Zur Entwicklung seiner Bildsprache gehört auch die Suche nach anderen Formaten für seine Arbeiten. So schuf er Werke im quadratischen oder Porträt-Format, die im Voraus festgelegt und als Hintergründe gemalt wurden, um mit dem typischen horizontalen Format für Graffiti Pieces zu brechen. Das Experimentieren mit verschiedenen Parametern spielt in SENORs Malprozess eine übergeordnete Rolle. Durch die Nutzung von Rollen z.B. entwickelte er eine neue Art Linien zu ziehen, die Strichstärke spontan zu variieren und somit auch neue Möglichkeiten, um Buchstaben an der Wand zu konstruieren oder zu dekonstruieren.



Ab 2015 kombiniert er in seinen Werken zunehmend große Kreisformen, Striche und Farbfelder, die mehr Gestik, Bewegung und Dynamik zulassen. Abstrahierte stilisierte Formen fließen freier ineinander, die ausgewogenen Kompositionen bilden ein Ganzes, wie ein biomorphes schwebendes Gebilde voller Energie. Seine Werke werden malerischer, plastischer und gewinnen an expressionistischer Kraft. Mit der Rolle trägt SENOR bei einigen Arbeiten die Acrylfarbe grober auf, mit Farbübergängen und Schattierungen in den Farbflächen der ausgefüllten Rundformen. Er betont die raue Textur der Wand, Spuren der Rolle und Pinselstriche werden sichtbar. Auch wenn diese Arbeiten abstrakt sind, spielt SENOR mit maximal reduzierten stilisierten Formen, Andeutungen von Balken, geschwungenen Linien oder Innen- und Außenräumen (der gedachten Buchstaben) auf die fünf Buchstaben seines Namens an. Das Grundmotiv, der Name des Autors, das Pseudonym, wird in Form von abstrahierten Überbleibsel von Buchstabenformen, Länge und Proportionen nur noch suggeriert. Auch in seinen ausgearbeiteten Pieces bleibt aber die besondere Dynamik seiner Handschrift präsent und enthält immer noch die Essenz, die Energie durch seine Linienführung, den Gestus des Taggen, des schnellen Throw ups. Diese Essenz ist vor allem in seinen Oneliner-Arbeiten zu finden, die für ihn Tag, Throw Up und Graffiti-Piece in einem sind, die schnell, instinktiv aber doch präzise ausgeführt werden, wie eine schnelle großformatige Skizze, die laut SENOR die ganze Kraft und Essenz von Graffiti enthalten.



Für den französisch-griechischen Künstler, der seit über zwei Jahrzehnten Style Writing tagtäglich praktiziert und überdenkt hat, sollte Graffiti Writing sich weiterhin anderen visuellen Ausdrucksformen öffnen, wie z. B. der Malerei, dem Comic und sich mit diversen Kunstströmungen befassen. Der Künstler schätzt die Idee der Verschmelzung, der Fusion, der Schaffung von etwas Hybriden als Teil der Entwicklung der Kunst, die von künstlerischer Freiheit zeugt. Diese Offenheit kann beim Graffiti-Writing neue, interessante Ergebnisse hervorbringen, insbesondere bei der Schaffung von großformatigen Werken an der Wand. Indem man nicht innerhalb eines Styles und einer Technik stagniert, können überraschende, originelle Werke entstehen, Bilder, die dank ihrer frischen Kraft, ihres Expressionismus und ihrer Stärke neue Eindrücke hinterlassen, und anregend und inspirierend sind, wie die Arbeiten von SENOR.



Grafische Arbeiten, Skulptur und Performance

Seit 2005 schafft SENOR ebenfalls Werke in seinem Atelier. Meistens handelt es sich um Zeichnungen auf Papier. Er zeichnet mit Tusche und verschiedenen Stiften und schafft Grafiken wie Lithografien. Derzeit arbeitet er an der Erforschung organischer, biomorpher Mikro-/Makrokosmos-Universen, in denen der Maßstab nicht definiert ist und Muster aus der Natur zu seinem zeichnerischen Vokabular für eine neue Serie werden. In den letzten Jahren sind auch skulpturale Arbeiten in SENORs künstlerischer Praxis wichtig geworden. Er definiert seine skulpturalen Arbeiten immer noch als Versuche und Experimente. Für seine Serie OUTSIDE IN verwendete er Ytong, ein leichtes Material aus gehärtetem, feinkörnigem Porenbeton, und fand eine neue Bedeutung, indem er es symbolisch für Straßen und Graffiti einsetzte und somit das Außen nach Innen, in den Ausstellungsraum brachte. SENOR erforscht weiterhin neue Techniken und Materialien, insbesondere in der bildhauerischen Praxis. Neben diesen Arbeiten produzierte er auch (Video-) Performances, die sich mit dem Unterbewusstsein beim „freien“ Zeichnen befassen, wie z.B. seine „The Five Fingers Zen Gnossienne“. Für diese verwandelt SENOR seine Hand in ein neues Werkzeug, bei dem jeder Finger mit einer Kreide verbunden ist. Das Gefühl von Zeitlosigkeit und Unendlichkeit wird durch das Experimentieren des Künstlers mit seinen Wiederholungen, wie hypnotisches Schleifen, automatisches Zeichnen, vermittelt.



Zu seiner letzten Performance-Arbeit gemeinsam mit dem Berliner Writer GATE von 2021 schrieben die Künstler folgendes: „Das vorliegende visuelle Experiment ist ein Dialog mit einer kritischen Stimmung, ein Konflikt der Ausdrucksmittel, der auf die Schaffung von Grenzen abzielt, die qualitative Elemente der Gesellschaft zum Ausdruck bringen. Es ist eine geistige und körperliche Reise, die sich die Choreographie zunutze macht, die die verschiedenen Maßstäbe, mit denen wir experimentiert haben, geschaffen haben. Wenn wir unsere Energie in einen Kontext einordnen müssten, wäre es wahrscheinlich die Psychogeografie, aber da sich der Ausdruck durch Freiheit und Subjektivität definiert, ist es unser gemeinsames Ziel, die Interpretation, die jeder Empfänger erhält, diesem Werk zuzuschreiben. Es liegt auf der Hand, dass eine einfache Lesart unserer Absicht diametral entgegengesetzt wäre. Das liegt daran, dass wir mit dem von uns verfolgten Prozess versucht haben, uns unbekannten Bereichen unseres Unterbewusstseins zu nähern, indem wir einfach einem Grundreiz gefolgt sind. Unser Hauptanliegen und Anreiz waren die Vielzahl von Emotionen und Fragen, die sich aus dem Vergleich zwischen Natur und Technik ergeben können (…). Da unser Interesse dem Prozess, der Flexibilität und der Transformation der Handlung gilt, ist es erwähnenswert, dass wir von Anfang an auf die Utopie abzielten, die sich aus dem Prozess und nicht aus dem Ergebnis ergibt. Für uns definiert sich die Erfahrungsreise sowohl im Moment der Handlung als auch in den Taten, die uns bis dahin begleitet haben. Unsere Semiographie und Notationen wurden durch Zufall entdeckt, indem wir Fehler machten und gleichzeitig versuchten, uns der Einzigartigkeit zu nähern, die jeder entwickelt, wenn er aufhört, logisch zu denken.“



Thematisch knüpfen die Performances von SENOR an das Freestyle im Graffiti Writing an, und an das, was ihm besonders wichtig erscheint: der kreative Prozess im Moment, der dank der Flexibilität und der Transformation der Aktionen nicht nur einzigartige Bilder, sondern auch „frischen Schwung“ und neue Impulse hervorbringen kann.



instagram.com/aerosoulheart

Katia Hermann
French-German art historian, curator and writer. After her studies of art history and cultural management in Paris, Katia moved to Berlin in 2001. For twenty years, she has worked as a freelance exhibition-maker/curator, cultural manager, writer and translator. After working for documentary film- and exhibition productions, she curated thematic exhibitions of modern & contemporary art and photography for institutions, project spaces and galleries. She always endeavors to promote artists with contemporary relevant topics, new visual languages, and tries to mediate to a wide public. After her research grant for fine arts with the topic Urban Art Berlin (Berliner Senate Department of Culture and Europe) in 2017, she initiated and coordinated the Urban Art Week in Berlin in 2018 and 2019. The photo exhibition BERLIN: WRITING GRAFFITI started 2019 to tour to Brussels with a publication. Beside her curatorial practice, Katia gives art tours and writes about urban art, contemporary art, and in particular about post-graffiti painters for magazines and blogs.

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