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Biomorphes abstraktes Graffiti des italienischen Künstlers 108: Von Buchstaben zu rätselhaften Zahlen

, by Katia Hermann

Industrielle Umgebung: Skateboard, Punk und Graffiti Writing

Guido Bisagni aka 108 wurde 1978 in Alessandria geboren, einer Stadt im italienischen Piemont im Nordwesten Italiens. Er wuchs dort auf und lebt bis heute in seiner Geburtsstadt und Mailand. Seit dem Mittelalter war diese Region vom Militär geprägt und wurde später eine wichtige Industriestadt, die nach den 70er Jahren in eine tiefe Krise geriet. In seiner Familie malte seine Mutter und sammelte Comics, vor allem von italienischen und französischen Cartoonisten wie Druillet, Crepax oder Pratt. 108 begann schon als Kind zu zeichnen und verbrachte viel Zeit mit seinen Großeltern. Sein Großvater war Metallarbeiter in einer örtlichen Fabrik und zeigte ihm, wie man mit Werkzeug umgeht und wie man kleine Dinge baut. Mit 13 Jahren fing er an Skateboard zu fahren und entdeckte dabei Punk, Graffiti und die lokale unabhängige Underground- Musikszene. Zu dieser Zeit gab es in seiner Stadt wenige merkwürdige Graffiti, sehr einfache, primitive Tags, erinnert er sich. Durch einige Filme aus den 80er Jahren und Graffiti-Magazine wurde er auf Graffiti aus New York aufmerksam und fing selbst an zu taggen. Einer seiner ersten Writernamen war EMON, doch er und seine damaligen Writer-Freunde änderten ihre Namen oft, um den Eindruck zu erwecken, dass sie mehr waren und um in ihrer kleinen Stadt anonym zu bleiben. Sie hinterließen viele Tags und Silver Pieces und gründeten die Skate-Crew „Esselunga Posse“ (es war der Name des Supermarktes, wo sie skateten). Die Crew wurde circa 1995 zur PRC-crew zusammen mit NEK (R.I.P.) und SUEDE (heute bekannt als Dr.Pira, einer der talentiertesten italienischen Comiczeichner) und mit einigen anderen lokalen Writern. Damals waren sie alle im Hardcore Punk verankert, malten viel zusammen und gründeten im Jahr 2000 die OK-Crew mit Writern aus anderen Städten wie PEIO, DEM, ARIS, ALFANO, PUNTO und anderen.

Damals bemalte der junge italienische Writer mit seiner Crew ein paar Züge, aber er mochte das nie besonders. Am liebsten malte er Silber Pieces entlang der Bahnstrecke. In seiner kleinen Stadt gab es einen großen Bahnhof, und es kamen viele Writer dorthin, um Züge zu bemalen, vor allem nach 2000. Circa 1997/98 fuhren er und seine Writer-Freunde zu Graffiti Conventions, um Sprühdosen zu besorgen. In dieser Zeit entdeckten sie viele verlassene Fabriken im Nordwesten Italiens, dem am stärksten industrialisierten Gebiet des Landes. All diese brachliegenden Orte seit den 70er/80er Jahren waren perfekt, um sich zu treffen, zu malen und zu feiern. Ende der 90er Jahre begann 108, aus Langeweile von Bombings und nächtliche Aktionen, andere Medien wie Rolle und Farbe sowie Aufkleber zu verwenden.



Inspirationsquellen

Wie fast alle, die in den 90er Jahren in Italien mit dem Graffiti Writing begannen, war der größte Einfluss amerikanisches Graffiti und insbesondere der Style des New Yorker Writers Phase 2. In Mailand hatte der lokale Writer RAE (oder RAX E) mit seinem Wild Style und dynamischen Buchstaben einen starken Einfluss. Eine der bemerkenswertesten Graffiti Writer in Italien war laut 108 die Writerin DAFNE. Als Frau in der Trainwriting-Szene Mitte der 90er Jahre war sie außergewöhnlich, und ihr Stil schien der Zeit 50 Jahre voraus zu sein, laut ihm. Auch andere europäische Writer beeindruckten 108, wie die Schweizer Writer DARE, DREAM und die TWS, sowie Punk Styles aus Paris oder Styles aus skandinavischen Ländern. Er mochte schon immer avantgardistische Stile, auch im Graffiti, und 1997/1998 stand er nur noch auf experimentelle Styles. Zu dieser Zeit lebte er in Mailand und studierte Design an der Polytechnischen Universität Mailand, an der Fakultät für Architektur. Diese technischen Studien langweilten ihn zwar, aber er hatte wohl einige großartige Professoren wie im Fach visuelles Design, Kommunikation und Farbtheorie mit dem Künstler und Farbtheoretiker Jorrit Tornquist. 108 wurde dort in die Kunstgeschichte der Moderne eingeführt und war stark beeindruckt von den Werken der Futuristen, von Malewitsch, Kandinsky, Itten, Castellani oder von Russolo. Das zusätzlich erlernte Wissen und Bewusstsein veränderte komplett sein Denken und seine Sicht auf die Kunst. Während seines Studiums lernte er viele interessante Menschen aus der zeitgenössischen Kunstszene Mailands und auch KünstlerInnen der heutigen Avantgarde kennen.

Circa 1997 entdeckte 108 den Style des französischen Writers STAK (Olivier Kosta-Théfaine) in einem Magazin. Laut 108 war er derjenige, der mit seinen abstrakten „Logos“ auf Zügen und Wänden für ihn alles veränderte. Es war etwas Neues, das nichts mit New Yorker Graffiti zu tun hatte, sondern es war ein europäischer Stil, kraftvoll, pur und konzeptionell, eine andere Ebene, laut dem italienischen Künstler. In jenem Jahr änderte er schließlich seinen Namen in die Zahl 108 und beschloss, die Buchstaben zu vergessen und seine bis heute fortlaufende Recherche über einfache Formen zu beginnen: „Ich stamme aus einer Generation von Leuten, die glaubten, dass Graffiti eine wichtige Rolle in der Kunst spielen, also wollte ich etwas Persönliches machen… Die Buchstaben waren nicht mehr wichtig, der Style war das, was mich interessierte. Ich glaube, STAK hat mich auf diese Idee gebracht…“ (…). „Damals hielt ich es für eine gute Idee, nur Zahlen zu verwenden. Denn niemand, den ich kannte, benutzte nur eine Zahl als Namen, es war, als würde man gegen die Grundregeln des Graffiti verstoßen. Seinen Namen als Zahl überall hinzuschreiben, das war, als würde man seinen Namen verlieren, etwas Ikonoklastisches. Und die Zahl 108 hat eine Bedeutung für mich, sie symbolisiert die Verbindung zwischen Kunst und Spiritualität.“



Neuer Name, neue Formen: 108 108 108

Über die Zahl 108 kann man verschiedene symbolische Bedeutungen finden: 108 hat eine wichtige Bedeutung für Hare-Krishna. Es ist eine Linie mit 3 Kreisen oder ein Rechteck mit 3 Quadraten. Nach buddhistischer und hinduistischer Auffassung sollten Mantras 108 Mal wiederholt werden, und es soll auch 108 irdische Versuchungen geben, die man überwinden muss, um das Nirwana zu erreichen. 108° ist der Winkel des Pentagons – einer der wichtigsten Winkel, die den Goldenen Schnitt bilden. Für den italienischen Künstler ist dies eine faszinierende Zahl, die er seit mehr als 20 Jahren als Pseudonym/Künstlernamen gewählt hat. Diese Zahl und ihre Formen faszinieren den Künstler wegen ihrer poetischen und esoterischen Konnotationen sowie wegen ihrer formalen Erscheinung. Anfangs experimentierte er mit seinem neuen Namen, mit neuen Techniken, indem er auch handgefertigte Aufkleber und Paste-Ups herstellte. Seine Freundin half ihm damals, sie produzierte viele 108 Arbeiten, wahrscheinlich die besten dieser gelben Aufkleber, erinnert er sich: „In Mailand lebten ein Freund und ich in einer kleinen Wohnung voller Sachen, die wir auf der Straße fanden. Wir hatten diese Rolle Klebeband aus Plastik/Papier, sie war gelb, ich wollte sie benutzen und eines Tages fing ich an, sie in beliebige Formen zu schneiden. So entstanden die „108“-Formen. Ich habe auch ein paar Aufkleber gemacht. Ich habe die ganze Zeit experimentiert, für mich war das alles eine Art Spiel. Außerdem hatte ich nie vor, Künstler zu werden, also hauptberuflich. Das Problem war, dass ich kein Geld hatte, es war schwierig, Sprühdosen zu kaufen. Also habe ich angefangen, Aufkleber und all diese Dinge zu machen. Für die Aufkleber habe ich Packpapier verwendet, das ich mit viel Wasser schwarz anmalte. Es war so schlecht, ich glaube, das meiste, was ich in diesen Jahren gemacht habe, war schlecht, hässlich und rustikal….Wir haben das Meiste gar nicht mal dokumentiert. Jedenfalls ging ich in die entgegengesetzte Richtung, verglichen mit den bunten Figuren oder technischen Buchstaben, die damals an die Wände gemalt wurden, aber es war wichtig.“ Anfang 2000 reiste 108 für einige Jahre in verschiedene Städte wie Berlin, New York, London, Paris und Oslo, und hinterließ über 3000 seiner Aufkleber und Paste-ups, viele auch in Italien. Er beeinflusste mit seinem innovativen Stil zu Beginn des neuen Jahrtausends einige KünstlerInnen der ersten Generation der aufstrebenden Street-Art-Szene.



Einfluss von Tribal Art und moderner Kunst

108 beschloss, sich vom klassischen Graffiti Writing und den damaligen Trends zu lösen, um sich auf eine introspektive Reise zu begeben und mit einfachen abstrakten biomorphen Formen zu experimentieren. Er erinnert sich heute an seine Entdeckung der abstrakten Malerei durch Tribal Art: „Als ich ein Kind war, war ich verrückt nach einem Foto, das ich in einem Buch fand: Ein Ureinwohner Australiens malte in einer Höhle abstrakte Motive. Ich glaube, es war das erste Mal, dass ich als Kind ein abstraktes Bild mochte. Jedenfalls ist Tribal Art meist kraftvoll, ehrlich und einfach. Ich habe auch großes Interesse an gravierte Steine, besonders auf Steine mit Bechermarkierungen. Die Ostalpen sind voll davon, aber niemand kümmert sich darum. Niemand weiß, was das für Steine sind und was für Rituale sie damit gemacht haben. Es ist fantastisch (…).“

Während seines Studiums entdeckte 108 die Werke moderner Künstler und die damit verbundenen Theorien, wie die Arbeiten von Malewitsch, Kandinsky und Hans Arp, Künstler, die noch immer einen starken Einfluss auf das Werk von 108 haben. Mit Hans Arp teilt er die Beschäftigung mit biomorphen, natürlichen, abgerundeten Formen, die sein und Arps Werk bis heute unverwechselbar machen. Über die Theorien dieser Künstler sagt er: „Sie haben einige der wichtigsten Texte geschrieben, die ich je über Kunst gelesen habe. Malewitsch war absolut, ich meine, er hat im Grunde genommen die abstrakte Kunst erfunden, und er erreichte den Höhepunkt aller Zeiten. Ich habe einige seiner Werke wie „Das Schwarze Quadrat“ in echt gesehen, und es war eine wirklich mystische Erfahrung. Ich liebe auch Kandinsky, weil er in gewisser Weise das Gegenteil war, seine Bilder sind für mich so freundlich, ich kann sehen, dass er sie gerne gemalt hat. „Das Spirituelle in der Kunst“ ist wirklich wie ein heiliges Buch, ich liebe seine Verbindung mit der spirituellen Seite, die man auch bei Malewitsch findet, aber sie ist anders. Später entdeckte ich auch seine Verbindung zum Schamanismus, und ich denke, man kann das deutlich sehen (…).“ „Ich liebe die Tatsache, dass man in ihren Gemälden deutlich die Hände sehen kann, die echte Malerei, die mit den Händen gemachten Werke, meine ich. Ich liebe die Unvollkommenheiten (…).“

Neben diesen Künstlern nennt 108 auch einige russische Avantgardekünstlerinnen wie Olga Rosanowa und Ljubow Popowa oder die Brüder Ender, russische Künstler, die die Kunstwelt verändert haben und seiner Meinung nach heute fast vergessen sind. Auch der Surrealismus beeinflusste ihn: „Ich mag die Bezüge der automatischen Zeichnungen und des automatischen Schreibens in meinen Bildern, wie diese surrealistischen und pre-surrealistischen Einschübe.“ (…) „Ich mag Kunst, wenn sie über die Realität hinausgeht. Wie ich schon sagte, gefällt mir antike Kunst, weil sie immer magisch, visuell und musikalisch war. Ich mag Bosch, ich mag die Symbolisten, dann natürlich Dada, de Chirico, der wahrscheinlich der größte surrealistische Maler war. Jedenfalls liebe ich Hans Arp, ich liebe Max Ernst, aber es geht nicht um die Bilder. Ich mag die Ideen, das Experimentieren…und Antonine Artaud war einer der größten Einflüsse für mich. Ich mag, wie er gegen alles rebellierte, auch gegen die Realität selbst, und ich denke, dass wir das heute wirklich brauchen.“

Neben der Kunst interessiert sich 108 auch für Anthropologie und antike östliche Religionen. „Auf eine weniger rationale Weise denke ich, dass für mich alles „magisch“ ist, und Kunst war schon immer magisch. Wenn man Kunst nur als etwas Materielles betrachtet, ist sie völlig nutzlos“, meint der Künstler.


Minimale, geheimnisvolle und kraftvolle Formen

108 beschreibt seine Werke nach dem Jahr 2000 als abstrakt, primitiv, spirituell, zwischen rational und irrational. Sie sind sehr persönlich und immer mit dem Unbekannten und mit seinen Ideen über die Existenz, die Zeit, das Leben und den Tod von allem, den Menschen, den Lebewesen im Allgemeinen, den Tagen, den Jahren, den Jahreszeiten verbunden. Er sagt: „Ich bin auf Grundformen fixiert: Steine, Bäume, Gebäude, Fahrräder…, die Hauptlinien sind immer wichtiger als Details oder Farben. Und das hat etwas Magisches. Meine Formen kommen aus meinem Unterbewusstsein, ich kann sagen, ich weiß es nicht. Es ist ein magischer Prozess, ich bin immer auf der Suche nach der perfekten Form.“ Der Zufall während des Schaffensprozesses ist für ihn essenziell, er hat etwas Magisches an sich, meint er. Und seine Kunstwerke zu erklären ist nichts, worauf er beharrt: „Manchmal, wenn man Dinge erklärt, verliert man das Wichtigste an der Kunst, nämlich zu versuchen, etwas zu vermitteln, das man mit Worten nicht erklären kann.“

Das Werk von 108 ist minimalistisch und abstrakt und sublimiert die Reinheit der dunklen, biomorphen, einfachen abstrakten Formen, indem er rätselhafte, geheimnisvolle und kraftvolle Gestalten schafft. Seine hauptsächlich in Schwarz gemalten Formen sind beeindruckend und schweben an den Wänden wie gespenstische Schatten, organische Spuren von etwas Größerem. Natürlich oder übernatürlich. So dunkel, fesselnd und tief sie scheinen, könnten sie als Öffnungen zu einem anderen Raum, als Türen zu einer anderen Dimension dienen und eine Art Brücke zwischen zwei Welten bilden: der materiellen und der unsichtbaren Welt. Das Bekannte und das Unbekannte. Manchmal fügen sich farbige Details und kleine Formen zu den großen schwarzen Formen hinzu und schaffen eine spielerische und leichtere Komposition. Der visuelle Eindruck seiner Werke ist fesselnd, herausfordernd und kontemplativ. Mit einer unvergleichlichen Symbolik und einer starken visuellen Wirkung drücken seine Werke zudem die Dualität der Kunst von 108 aus: ihre Fülle und gleichzeitig ihre Leere. Inhaltslos und ohne klar definierbaren Formen. Denn der Künstler versucht, die Realität zu transzendieren, sie neu zu erfinden und zu verändern, indem er eine spirituelle Ebene hinzufügt und als Medium zwischen Kunst und Spiritualität agiert. Indem er die Kontrolle der Rationalität aufgibt und seine Malerei vom Unterbewusstsein geleitet wird. 108 schafft eine Art Metakunst mit reinen Formen, die wie aus alten Kulten stammen – rätselhaft und mystisch. Seine Werke in situ schaffen in ihrer Umgebung eine einzigartige poetische, magische Atmosphäre, vor allem an leeren, verlassenen Orten, an alten Mauern, verfallendem Mauerwerk, umgeben von Natur. Und die Natur nennt 108 ebenfalls als Inspirationsquelle für seine Arbeit: „Die Träume und der Rotwein des Piemont, die Flecken der Feuchtigkeit, Moos und Nebel, Steine, Bäume, der Winter mit seinem Schnee, etruskische Schriften, Runen, Schnecken, Katzen…(…)“.

Für jedes neues Kunstwerk, das 108 schafft, steht die Suche nach der Hauptform im Mittelpunkt seiner Forschung. Und er versucht immer, die perfekte Form zu finden. Sie verändert sich ständig, was der Künstler selbst nicht erklären kann. Manchmal tauchen die Formen in seinem Kopf auf. Er beschreibt es folgendermaßen: „Das ist eine magische Sache, ich kann sie nicht finden, wenn ich will. Das beste Mal war, als ich einen Traum hatte und diese Form malte, ich wachte auf und zeichnete die Form. Normalerweise fange ich an, Formen mit einer Linie zu zeichnen, ich habe Tausende dieser Blätter, nach 10 oder mehr Formen fange ich an, automatisch zu zeichnen. Auf diese Weise habe ich einige meiner Serien gemacht, ich meine die Werke mit 12-20 oder 60 Formen, ich nehme die besten Formen und male sie normalerweise in Schwarz. Wenn ich durch Visionen, Träume, automatisches Zeichnen oder mit anderer Technik und externer Hilfe eine gute Form gefunden habe, dann beginne ich, sie auf rationalere Weise zu bearbeiten. Ich mache sie „besser“, ich füge Dinge hinzu, Farben…“.



Herangehensweisen

Für den Künstler 108 ist der im Vorfeld ausgewählte Ort für sein nächstes Piece/Wandgemälde entscheidend. „Ich denke, dass die Suche nach dem perfekten Ort zum Malen bereits 50 % der Arbeit ausmacht, wenn man im öffentlichen Raum arbeitet. Festivals sind gut, um Leute zu treffen, aber für mich ist es immer noch wichtig, an Projekten ohne Auftrag zu arbeiten: Normalerweise suche ich verlassene Orte, vor allem Fabriken… die Geschichte des Gebäudes ist für mich auch wichtig. Ich möchte den Ort, an dem ich arbeiten werde, respektieren. Es kam vor, dass einige Wände zu schön waren, perfekt mit Moos und rostigen Teilen, und ich beschloss, sie so zu belassen, wie sie waren. Vor Jahren beschloss ich, nur schwarze Farbe zu verwenden, weil ich dachte, dass dies die respektvollste Farbe für diese Art von Orten sei. Jetzt arbeite ich hauptsächlich mit klassischen Medien wie Papier oder Leinwand, aber ohne die Aktivitäten im öffentlichen Raum wäre meine Arbeit völlig anders.“

Das Schwarz, das 108 seit Jahren verwendet, ist immer dasselbe, ein Acryl schwarz auf Wasserbasis für Wände, für Außenbereiche, und es ist laut ihm das schwärzeste Schwarz, hat viele Pigmente. Er malt damit auch auf Leinwand und auf Papier, denn das tiefe Schwarz bleibt auch dann erhalten, wenn er Wasser hinzufügt, um es sehr flüssig zu machen. Seine Arbeit wird ständig von Schwarz dominiert, aber manchmal fügt er auch einige Farben hinzu. Er erklärt: „Mein Hauptaugenmerk lag auf der Form, der Gestalt, und für mich ist die schwarze Farbe sehr wichtig, sie ist ein Symbol und die stärkste Farbe, um Formen zu schaffen. Außerdem denke ich, dass Schwarz die eleganteste Farbe zum Malen war, als ich einige Wände auf der Straße illegal gestaltete. Wenn man in einem alten Gebäude malt, finde ich, dass Schwarz die natürlichste Farbe ist, wenn man sich andere Farben dort vorstellt, könnte das respektlos gegenüber dem Gebäude sein. Es gibt viele Bücher, die ich liebe, in denen über die Philosophie der Farbe Schwarz geschrieben wird, für mich ist sie ein Manifest und ein Statement (…)“. Was andere Farben in seinen Werken betrifft, so hat sich ihr Verhältnis zum dominierenden Schwarz in einer Komposition im Laufe der Zeit mehrmals geändert. In einigen Werken waren die zusätzlichen Farben marginal und auf dünne Linien reduziert, die in den vorherrschenden schwarzen Farbton eintraten und größtenteils von ihm absorbiert wurden. Zur Vorbereitung für eine neue Arbeit fertigt 108 nie eine Skizze an: „Ich skizziere gerne und viel, aber ich mag die Skizze an sich und nutze sie, um zu üben, nicht um ein bestimmtes Werk vorzubereiten. Wenn mich jemand um eine Skizze für eine Auftragsarbeit bittet, ist das für mich keine gute Sache. Ich versuche, das komplett zu vermeiden. Für mich ist Malen ein Prozess oder ein Ritual, es geht nicht nur um das Endprodukt. Damit habe ich sehr zu kämpfen. In Zukunft möchte ich mich so weit wie möglich befreien.“



Atelierarbeiten und Ausstellungen

Neben seiner Arbeit im Freien malt 108 auf Leinwand und Papier, fertigt Keramiken, Skulpturen, ortsspezifische Installationen und Wandmalereien in Museen und Galerien an.

Der Italiener stellte seine Werke bei zahlreichen Projekten, auf Festivals, und in Gruppen- und Einzelausstellungen aus. Er nahm 2007 zusammen mit seinen Künstlerkollegen JR und DAIM an der Biennale von Venedig in Italien im Rahmen des Projekts „Walls inside“ teil. Weitere größere Ausstellungen folgten, wie die Urban Art Biennale „Atmossphere“ in Moskau 2014, die Gruppenausstellung „Mapping the city“ 2015 in London, sowie Ausstellungen in der Galleria Varsi in Rom, der Galerie Celal M13 in Paris, der Slika Galerie in Lyon, der Antonio Colombo Arte Contemporanea in Mailand und der Swinton Gallery in Madrid 2021.

Zusammen mit seinem italienischen Freund und Künstler CT hat 108 einen Weg gefunden, in einem Raum zu arbeiten, in dem beide ohne Druck und Anforderungen frei arbeiten können und Pieces und Wandmalereien schaffen können, wann immer sie wollen. Ihr unabhängiges Projekt, VLNV genannt, begann vor einigen Jahren. Es entstand mit zahlreichen Wandmalereien in einem großen, verlassenen Gebäude, und sie beschlossen, den Ort wie ein Museum zu behandeln. Sie nahmen Maße, kuratieren es nach und nach und schaffen Arbeiten nebeneinander. Die entstandenen Pieces kontrastieren in ihren Formen und harmonisieren dennoch nebeneinander, durch ihre einzigartigen minimalen Formen, die auf das Wesentliche reduziert werden. Doch bei ihrem Projekt geht es ihnen nicht nur um Ästhetik, sondern darum, etwas Großes zu entwickeln und zu schaffen, ohne Auftrag, Genehmigung oder Budget. Das einzige Material, das sie brauchen, sind die Farben für die Wände, die CT als gefundene Farbreste besorgt. Für beide Künstler, die aus und in derselben Region leben, ist es auch eine Möglichkeit, als bildende Künstler ein politisches Statement abzugeben, denn sie leben in einem Land und einer Region, in der es keine Räume oder öffentliche Unterstützung für KünstlerInnen gibt, eine Region in der es aber viele verlassene und leerstehende Gebäude gibt. Zur Unabhängigkeit und Freiheit von Künstlern meint 108 folgendes: „Ich denke, ein Künstler sollte zunächst einmal so frei wie möglich sein. Für mich ist ein Künstler ein Sucher von Wundern. Ich meine, unsere Gesellschaft ist unvollkommen, unsere Welt ist unvollkommen, wir müssen jahrelang überleben, so gut wir können, nur um am Ende zu sterben. Der Künstler sollte der Heiler in unserer Gesellschaft sein. Der Künstler im Allgemeinen, meine ich, und seit ich denken kann, hat mich die Kunst geheilt…“.



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Katia Hermann
French-German art historian, curator and writer. After her studies of art history and cultural management in Paris, Katia moved to Berlin in 2001. For twenty years, she has worked as a freelance exhibition-maker/curator, cultural manager, writer and translator. After working for documentary film- and exhibition productions, she curated thematic exhibitions of modern & contemporary art and photography for institutions, project spaces and galleries. She always endeavors to promote artists with contemporary relevant topics, new visual languages, and tries to mediate to a wide public. After her research grant for fine arts with the topic Urban Art Berlin (Berliner Senate Department of Culture and Europe) in 2017, she initiated and coordinated the Urban Art Week in Berlin in 2018 and 2019. The photo exhibition BERLIN: WRITING GRAFFITI started 2019 to tour to Brussels with a publication. Beside her curatorial practice, Katia gives art tours and writes about urban art, contemporary art, and in particular about post-graffiti painters for magazines and blogs.

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