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Jeroen EROSIE (NL): Die Freiheit des künstlerischen Geistes durch die gezeichnete Linie

, by Katia Hermann

Jugend geprägt von Zeichnen und Style Writing

Der niederländische Künstler Jeroen Erosie wurde 1976 geboren und wuchs im Süden der Niederlande, in Eindhoven, auf. Es ist eine der wenigen kleinen Städte, die dank des lokalen Writers Freaky/Phet 15 mit Bildern von Graffiti in Henry Chalfants Buch „Spraycan Art“ aus dem Jahr 1987 abgebildet wurde. Die Stadt ist die fünftgrößte in den Niederlanden, und diese Kleinstadtsituation machte sie in den späten 1980er und 1990er Jahren wahrscheinlich zu einem interessanten Ort laut EROSIE: „Viele Leute taten sich zusammen, anstatt miteinander zu konkurrieren; es gab viele Bands, DJs, Produzenten, Graffiti Writer und Künstler, die sich alle gegenseitig beeinflussten und kannten und sich auf Konzerten oder illegalen Partys trafen, für die Eindhoven bekannt war“.

Mitte der 1980er Jahre entstand in Eindhoven die Graffiti-Szene und EROSIE entdeckte als Kind Tags und Throw Ups auf den Straßen und war fasziniert. Schon als Kind zeichnete er selber sehr viel, eine Hauptbeschäftigung neben dem Radfahren und Skateboarden. Zu Hause wuchs er mit einem beeinträchtigendem Familienleben auf, das mit viel Stress verbunden war und so wurde das Zeichnen zu seinem persönlichen Schutzraum, in dem er alles vergessen und sich frei fühlen konnte. Eine Art der Ablenkung, eine Form des Eskapismus, erzählt er heute. Nachdem er Tags und bunte Pieces entdeckt hatte, begann er, selbst Buchstaben zu zeichnen. „Die fett gemalten Formen, Characters und Farben waren überall und ich liebte es“, erinnert er sich. Selber begann er 1992/1993 mit Graffiti Writing, kurz nach der ersten großen Welle des Style Writings und mitten in der Zeit des Hardcore Trainwritings in den Niederlanden und der U-Bahn-Bombings in Amsterdam. Sein erster Name war EROS und malte ihn vor allem auf der Straße. Später wurde er Mitglied der SOL-Crew und änderte seinen Namen in EROSIE Ende der 90er. Diese Zeit war eine lebendige Zeit, musikalisch und visuell, alles fühlte sich wie eine Entdeckung an, laut ihm. Und es gab nur sehr wenige Referenzpunkte, die nachhaltig prägten. Neben MTV als einer großen Informationsquelle gab es ein oder zwei interessante Radiosendungen. Die Leute reisten also in verschiedene Städte, um Graffiti Pieces in echt zu sehen und zu fotografieren, und um in Läden ein bestimmtes Buch oder Magazin über Graffiti zu finden. Es waren Zeiten des Verbindens, Experimentierens, Mixen, in der man sich nicht auf ein bestimmtes Genre oder Thema festlegte, sondern offen für verschiedene Einflüsse war. In Eindhoven gab es damals eine gute Mischung an Menschen, die sich in verschiedenen Szenen bewegten, so EROSIE. Meist Graffiti Writer mit einer neugierigen Einstellung, wie z.B. die Leute von Betamaxxx, Space3 und der SOL-Crew, mit denen er in den folgenden Jahren auf der Straße aktiv war. Er erinnert sich, wie er mit dem Fahrrad durch die Stadt und die Umgebung fuhr und die Straßen und das, was dort passierte, ihn begeisterte.

EROSIE ließ sich von allem, was er entdeckte, inspirieren und entwickelte seinen eigenen Stil, wobei er offen für Experimente war, Characters hinzufügte und sich nicht auf eine bestimmte Buchstabenform wie Block oder Semi-Wildstyle beschränkte. Ende der 1990er Jahre begann er, das Interesse am klassischen Style Writing seines Namens zu verlieren und entwickelte neue Ideen und Ausdrucksmöglichkeiten, insbesondere für die Straße.



Zwei Welten trennen: die Kunstschule und die Straße

Gleichzeitig studierte EROSIE von 1995 bis 1999 Illustration an der Willem de Kooning Kunstschule in Rotterdam. Im Jahr 1997 nahm er an einem Austauschprogramm an der School of Visual Arts in New York teil. Zu dieser Zeit tauchte auch dort Street Art auf und er entdeckte Werke von Andre the Giant, REVS/COST, ESPO and WK Interact und war fasziniert. Seit dem Besuch der Kunstschule hatten Jeroen und seine Freunde Zugang zu Computern, Photoshop und Laserdruckern, um das zu produzieren, was er 1997/1998 entwickelte: Paste Ups und Sticker. Er wollte damals eine Verbindung zwischen Illustration und Buchstaben/Wörtern schaffen und diese auf der Straße veröffentlichen. Er experimentierte sogar mit sieben Zentimeter großen Stempeln mit Stempelkissen und hinterließ die selbst gestalteten Stempelmotive an Masten und Stromkästen. Dann produzierte er das Bild in Form einer Zielscheibe, indem er runde Aufkleber dafür verwendete und sein Design darauf druckte, um es neben anderen Aufklebern an die Wände zu bringen. Er mochte es, seine Aufkleber mit denen anderer zu kombinieren, mit denen seiner Crew-Mitglieder, space3 oder weiteren, wie in Rotterdam, wo er Jeroen Jongeleen / Influenza kennenlernte.



EROSIE trennte bereits seine Arbeit auf der Straße von der Arbeit an der Kunstschule, was ihm ermöglichte, zwischen den beiden Welten hin- und herzuspringen. Im Jahr 1999 machte er seinen Abschluss als Illustrator und wurde ein professioneller Zeichner für Kinderbücher, machte redaktionelle Arbeiten für Zeitungen und Zeitschriften sowie kommerzielle Arbeiten, einen Job, den er tagsüber ausübte, während er nachts mit seinen Street Art-Arbeiten auf der Straße unterwegs war. Aufgrund dieses ständigen Abriebs war EROSIE nach ein paar Jahren erschöpft Auftragsillustrationen zu machen und kündigte zeitweise seinen Job ab 2003. Denn durch den verbundenen Stress in diesem Beruf verlor er zeitweise den Spaß am Zeichnen und wollte diese Freude mit anderen Mischtechniken unbedingt zurückgewinnen. Er entwickelte somit andere Formen von Graffiti mit der Sprühdose, wie z.B. seine Fahrräder, und suchte nach einer freien Art der Verwendung von Bildern/Zeichnung. Seine bekannten „Fahrrad-Tags“ waren ein Bedürfnis, den Illustrator und Graffiti Writer in ihm zu vereinen, indem er eine pure Strichzeichnung und ein pures Tag in einem schaffte. Das Motiv des Fahrrads war damals eine Reaktion auf die kontrollierte Stadtplanung in Eindhoven und das Verschwinden von Fahrradparkplätzen. Für EROSIE war es ein persönliches Projekt, das mit seiner Liebe zum Fahrradfahren verbunden ist.



Kunstkonzepte im Zusammenhang mit neuzeitlichen Veränderungen

Ab 2004 gab es viel mehr Internetpräsenz und es war quasi die Geburt des „Street Ar“-Labels“ durch Webseiten wie „Wooster collective“, „Ekosystem“ usw. EROSIE begann einige konzeptionelle, nicht-figurative, dekorative textbasierte Arbeiten zu schaffen, Paste Ups für die Straße, mit starken Sprüchen, fast als reaktives Gegengewicht zu dem damals enormen „Eye-Candy-Einfluss“ der Street Art als kommerzielle Sprache, wie er es beschreibt. Das führte dazu, dass er diese „Gegenenergie“ nutzte, um sie nach Innen zu wenden und über neue Ausdrucksmöglichkeiten für sich selbst nachzudenken. 2005/2006 machte er tägliche Uploads eines Tags auf Fotolog, wo Bilder von Graffiti aus der ganzen Welt jeden Tag hochgeladen wurden. Nur EROSIE lud Tags hoch, die er auf einem digitalen Tablet erstellte, einem Werkzeug aus der Illustration, und ein Widerspruch ein virtuelles Medium als Werkzeug zum „Getting up“ zu verwenden in der damals allgegenwärtigen Graffiti-Szene. Er thematisierte dort Toy Styles mit einem digitalem Illustrationswerkzeug und einem konzeptionellen Ansatz, neugierig aber besorgt zugleich über die Freiheit, die sich die von Bildern dominierte Szene nahm, in der das Internet als Medium begann, das endgültige Werk zu diktieren.



Im Jahr 2008 entwickelte EROSIE sein spezielles Tag, den „perfekten Kreis“, den er mit einer Sprühdose „zeichnete“. Für ihn fühlte es sich genau richtig an: es war sowohl eine ästhetische als auch eine konzeptionelle Geste, die mit einer Sprühdose ausgeführt wurde und verschiedene Bereiche abdeckte und ihn an die Kraft der Linie erinnerte. Die freihändige Praxis und die kurze gestische Bewegung, die Zeichnung als Basis der Schöpfung steht für ihn als direkte Verbindung zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein und erlaubt es, laut dem Künstler, sich wirklich frei zu fühlen.



Mit der Street Art-Bewegung, ihrer Präsenz im Internet und ihrer Kommerzialisierung überdachte EROSIE die visuelle Sprache, die entstand, und entwickelte seine „Random Image Generator“-Wandbilder ab 2009. Die Muster, die er verwendete, wurden mit generischen Bildern aus den „Street Art-Klischee-Bildern“ gefunden, ein rationaler Vorwand, um dieses Feld sowohl zu kritisieren als auch zu übernehmen, eine Art reaktionärer Ansatz, der schrittweise zu seinen späteren abstrakteren, introvertierten Arbeiten führte. Kurz danach begann er mit seinen „Horror Vacui“-Wandbildern, die er in schwarz auf weiß von links nach rechts malte und wie eine Schrift auf die Wand zeichnete. Horror vacui bezeichnet in der Kunst den Wunsch, alle leeren Flächen, besonders in der Malerei und im Relief, mit Darstellungen oder Ornamenten zu füllen. Die Muster in seinen Bildern entstanden aus einem Strom des Bewusstseins – er zeichnete alles, was ihm intuitiv in den Sinn kam. Es war wie eine zeichnerische Improvisation mit dem Pinsel, er ging die Register in seinem Kopf durch, schob sie durch das System und füllte den ganzen Raum, als ob er Angst vor der Leere hätte, wie eine endlose Zeichnung. „Graffiti kann auch als öffentlicher, räumlicher horror vacui, als organische visuelle Auffüllung des Raums, gesehen werden. Die „Horror Vacui“- Murals waren wie eine Kombination aus diesen beiden Welten: mit der Linie eines Zeichners und der allumfassenden Geste eines Graffiti Writers. Aber sie reflektierten auch den allgemeinen Exzess in der kommerziellen Bildsprache und berührten das Thema „Was soll das bringen?“. „Was ist der Sinn?“, sagte EROSIE 2017 (Interview in Juxtapose Magazine*).



Figürliche Zeichnungen von abstrakten Formen

Diese Konzepte führen zu weiteren Untersuchungen des Künstlers. Er entwickelte neue Formen in seinen Skizzenbüchern mit einfachen Zeichnungen um 2014/2015, als er auch imaginäre Skulpturen zeichnete. Seine Oneliner-Zeichnungen fanden neue abstrakte Formen, die an Schriftzüge aus seiner Style Writing-Praxis oder an architektonische Formen der Nachkriegsarchitektur der 50er/60er Jahre seines Umfelds erinnerten. Die brutalistische Gebäude in den Niederlanden, mit ihrer stark anti-figurativen, geometrisch-abstrakten Bildsprache, inspirierten EROSIE schon seit seiner Kindheit. Seine neuen abstrakten Formen sind nach Aussage des Künstlers aus dem figurativen Zeichnen entstanden. Diese Skizzenbuchzeichnungen wurden nur mit einem Stift ausgeführt, mit reiner Intuition, aber rational strukturiert mit einem Raster auf der Skizzenbuchseite. Das endgültige Bild zeigt eine Anhäufung von verschiedenen Schritten. Jede Zeichnung ist nicht nur eine für sich, sondern ein Animationsrahmen in der Iteration des Ganzen, gezeichnet von links nach rechts, wie Ziegelsteine in einer Mauer, die eine Struktur bilden. „Jede Zeichnung entblößt gleichzeitig seine Vergangenheit und seine Gegenwart; Buchstabenformen, architektonische Elemente, expressive abstrakte Formen, freie Formen, die immer ähneln, aber nie ganz dazugehören“, erklärt er. Diese Phase ist der Beginn einer neuen visuellen Sprache und einer neuen Herangehensweise in den folgenden Jahren: eine introspektive Anhäufung von Bausteinen, die er in Drucke, Zeichnungen, 250 m2 große Wandbilder, Gemälde, Collagen, in alles verwandeln kann, so EROSIE. „Es ist, als wäre ich der Architekt meines eigenen Bausystems, der die Endprodukte in vielen verschiedenen Ausprägungen gestaltet“. Über diese Arbeiten erklärt er: „Es gibt viele Elemente aus dem Graffiti, aus denen die neuen Wandbilder stammen, aber es gibt zwei Aspekte, in denen sie, zumindest für mich, immer noch ziemlich nah an einem Piece, einem Tag oder einem Throw Up sind, wie ich es früher gemacht habe. Erstens die Tatsache, dass die meiste Arbeit im Vorfeld in meinem Skizzenbuch gemacht wird, mit vielen Seiten schrittweiser Entwicklung, dem Ausprobieren von Dingen, dem Finden eines bestimmten Schwungs und dem Entdecken beim Zeichnen. Die Symbole, die ich zeichne, sehen manchmal immer noch ein bisschen wie Graffiti-Schriftzüge aus, aber sie könnten auch Konturen, Diagramme oder architektonische Elemente sein. Sie kommen immer sehr direkt, jedes Quadrat wird mit einer intuitiven Zeichnung gefüllt, in einer Kettenreaktion, fast so, wie ich meine Pieces skizziere oder Tags in einem iterativen Prozess mache. Dieser Kontrast zwischen dem rationalen Raster und den intuitiven Formen ist es, der mich fasziniert.“*


Für seine Wandmalereien fertigt EROSIE vor dem Malen eine grobe Skizze an, die er aber nie fertigstellt, weil er wegen der Größe zwischendurch eh improvisieren muss. Er verwendet Wandfarbe, Pinsel und Rollen und wählt Schwarz und Weiß und drei Komplementärfarben, um mit einer begrenzten Palette für seine Formen auf rechteckigen Feldern zu variieren. Von links nach rechts zu arbeiten, eine Form neben eine andere zu setzen und die Formen auszubalancieren, ist für ihn ein organischer Prozess und nicht nur eine mentale Projektion. Laut EROSIE, schafft er dies mit einem bestimmten Werkzeugsatz in seinem System, den er durch Zeichnen und Graffiti Writing entwickelt hat. Die Ergebnisse verblüffen durch die Schönheit der reinen Formen, die sich in farbigen Rechtecken nebeneinander ausbreiten und als Ganzes wie ein originelles handgefertigtes Muster aussehen, immer wieder anders, aber wunderbar zusammenpassend. Die schwebenden, großflächigen, bunten, abstrakten Formen an den Wänden sind faszinierend, verspielt und fröhlich.



In seinem Atelier zeichnet EROSIE, malt mit Wandfarben, Sprühdosen, verwendet Mischtechniken auf der Leinwand oder erstellt Collagen. Für ihn macht das Malen mit den Grenzen einer Leinwand eine Arbeit weniger linear. Er arbeitet darauf nicht von links nach rechts wie auf Papier oder an der Wand, sondern oft von unten nach oben, wobei er einige Teile übermalt und manchmal neu malt. Auf die Frage, welche Kunstrichtungen ihn inspirieren, antwortet der Holländer: Dada, abstrakter Expressionismus und Cobra, eine internationale Künstlergruppe, die Ende der 40er Jahre versuchte, sich vom Surrealismus abzuwenden und den Expressionismus mit den Stilmitteln des Informel wiederzubeleben. Intuitiv und spontan arbeitend findet man einen ähnlichen Ansatz bei EROSIE. Einige seiner Arbeiten der letzten Jahre erinnern an zweifarbige Werke vom Hard Edge Painting, insbesondere von Lorser Feitelson aus den 60er Jahren: abgerundete, großflächige Formen in einer Farbe kontrastieren auf dem andersfarbigen Hintergrund. Vielleicht ist die Verbindung generell in den Formen der 60er Jahre zu sehen: abstrakte, geometrische abgerundete Formen der Nachkriegsarchitektur und dem Design dieser Zeit.

Jeroen EROSIE gehört zu den wenigen Künstlern aus der Post Graffiti Ära, die ihre Praxis immer wieder neu überdenken, sie konzeptualisieren, beobachten und reflektieren, was um sie herum geschieht und versuchen auf überraschende Weise zu reagieren: indem sie mit ihren eigenen etablierten Gesetzen brechen und sozusagen reaktionär gegenüber ihren eigenen Errungenschaften sind. EROSIE experimentiert kontinuierlich mit neuen Wegen, befreit seinen künstlerischen Geist immer wieder durch intuitives Zeichnen und findet somit überraschend neue originelle Formen für seine einzigartige Bildsprache.

*juxtapoz.com/ jeroen-erosie-the-iterative-process/


instagram.com/jeroen_erosie erosie.net



Katia Hermann
French-German art historian, curator and writer. After her studies of art history and cultural management in Paris, Katia moved to Berlin in 2001. For twenty years, she has worked as a freelance exhibition-maker/curator, cultural manager, writer and translator. After working for documentary film- and exhibition productions, she curated thematic exhibitions of modern & contemporary art and photography for institutions, project spaces and galleries. She always endeavors to promote artists with contemporary relevant topics, new visual languages, and tries to mediate to a wide public. After her research grant for fine arts with the topic Urban Art Berlin (Berliner Senate Department of Culture and Europe) in 2017, she initiated and coordinated the Urban Art Week in Berlin in 2018 and 2019. The photo exhibition BERLIN: WRITING GRAFFITI started 2019 to tour to Brussels with a publication. Beside her curatorial practice, Katia gives art tours and writes about urban art, contemporary art, and in particular about post-graffiti painters for magazines and blogs.

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