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DIAMONDS: Aktuelle Ausstellung und Publikation über die Wholecar-Serie der letzten Jahre

, by Katia Hermann

Fotoausstellung von R. BORRMANN: „DIAMONDS gentle giant“ bei Hood Projects in Düsseldorf. Bis Ende März 2023.

Der Tauschhandel mit analogen Fotografien von bemalten Zügen war ein Brauch in den frühen 1980er Jahren innerhalb der New Yorker Trainwriterszene. Auch Gleisanlagen und das Umfeld waren wichtige Motive rundum der besprühten Züge auf dieser Art der Fotografie. Vor allem das Negativ war begehrt, denn es ermöglichte die Anfertigung von (hochwertigen) Abzügen. Dieser Brauch ist bis heute unter manchen Style Writern der Berliner Szene auch noch üblich. Der Berliner Fotograf R. Borrmann besitzt durch diesen Tauschhandel und eigene Fotos ein umfangreiches Archiv bemalter Züge. In der Fotoausstellung „DIAMONDS- gentle giant“ in der Galerie Hood Projects in Düsseldorf – geführt von Andreas Kopp und Peter Michalski –, zeigt Borrmann bisher unveröffentlichtes Bildmaterial: verschiedene Wholecars der Berliner crew DIAMONDS aus den letzten Jahren. Die in Berlin ansässige DIAMONDS-Crew ist ein Kollektiv von Style Writern, die sich erst durch klassisches Writing einzeln einen Namen gemacht hatten. Als sich die Gruppe in den späten 2000er Jahren formierte, brachte jedes Mitglied Ideen und Praktiken ein, die über das klassische Writing hinausgingen und vor allem die Zusammenarbeit während des freien Malprozesses in den Fokus setzten. Das Kollektiv wurde damals vor allem für ihre innovativen, meist groß angelegten kollaborativen abstrakten Pieces/Wandmalereien bekannt. Die von Hand abgezogenen großformatigen analogen Farbfotografien von Borrmann zeigen die von DIAMONDS übermalten beeindruckenden S-Bahn-Waggons, an bestimmten Bahnhöfen stehend, auf Gleisen rollend, sowie Ausschnitte/Details der abstrakten Malereien.



Publikation „DIAMONDS – Moving Cathedrals“

Gleichzeitig erschien nun bei dem Berliner Verlag Hitzerot das Buch „DIAMONDS – Moving Cathedrals“ mit anderen Fotografien dieser Wholecar-Serie. Die Publikation konzentriert sich auf eine ganze Reihe von Arbeiten, bei denen die Crew sowie Freunde zusammenwirkten, um ihr Konzept auf eine andere Ebene zu bringen: auf mehrere S-Bahn-Waggons in Berlin, die in den letzten drei Jahren aufwendig bemalt wurden. Durch die Wahl einer im Graffiti klassischen Fläche und Format für ihre Aktivitäten – den Zugwaggon – erhielten diese Arbeiten mehr Aufmerksamkeit als die früheren Produktionen. Ihre dynamischen, farbenfrohen abstrakten Arbeiten scheinen zudem wie geschaffen für rollende Waggons. Das kollektive Malen auf dieser großen Oberfläche im Panoramaformat, in einem kurzen Zeitrahmen, also unter Druck, erfordert schnelles, intuitives kollektives Denken und Handeln, eine gewisse Methodik, um ein finales zufrieden stellendes Gesamtbild zu schaffen. Das Malen wird somit zur performativen Aktion und so werden auch hinten im Buch einige Aufnahmen unter Aktion 1 bis 6 präsentiert. Die 180 Seiten der hochwertigen Publikation beinhalten bemerkenswerte verschiedene Fotografien der bemalten S-Bahn-Waggons im Einsatz, die manchmal tagelang oder nur wenige Stunden im Verkehr waren. Die Lebensdauer der Züge ist mit angegeben. Anders als bei Fotos von Panels auf Zügen verlangten diese leinwandähnlichen Giganten eine andere Art der fotografischen Dokumentation mit verschiedenen Blickwinkeln: Nahaufnahmen von Details der Arbeiten waren ebenso wichtig wie Fotos der ganzen Waggons oder Bilder vom Inneren der Waggons. Denn der Anblick der farbig bemalten Fensterscheiben von Innen, Ausschnitte, die nur durch die Fensterrahmen zu sehen sind, erinnert an buntes Fensterglas von Kathedralen und gab somit dem Buch auch seinen Titel. Weitere Fotografien zeigen die Waggons mit geöffneten Türen, die wiederum das Gesamtbild der Malerei verändern. Die Malereien von DIAMONDS auf den S-Bahnen in verschiedenen Umgebungen und Kontexten zu sehen, heißt auch, die Arbeiten anders betrachten und anders wahrnehmen zu können. Denn sie wirken auf jedem Foto anders, überraschen mit ihren Farbkombinationen, Kontrasten, Feldern, gestischen Spuren. Die Aufnahmen der Serie stammen hier von drei Fotografen: R. Borrmann, Emmett Edelstein und Enzo Ricordo.



Grafisch originell gesetzte Texte der DIAMONDS geben Einblicke in die Gedanken der Autoren über die Teilnahme an diesen kollaborativen Schaffensprozessen: „In der Zusammenkunft, der Gleichzeitigkeit des gemeinsamen Prozesses des Malens, Zeichnens, dem Überlagern von Zeichen, Formen und Farben, entstehen wunderschöne Momente des Chaos. Wie in einem wilden Sturm, der alles niederreißt und einen zurückwirft auf andere, tiefer liegende Zusammenhänge. Die verrückte, tiefe Verbindung im Moment, in der die Flüchtigkeit sich in seiner Radikalität zeigt.“ (…).  Eine weitere Passage stellt interessante Fragen und schlägt Brücken zur Malerei: „Hat Graffiti ein Ziel? Gibt es Ziele in der Malerei? Anerkennung, Fame, Erkenntnis, Ehrlichkeit, Wahrheit, Wachstum, Hilfe, Selbsthilfe, Halt, Kraft, Rebellion… Der eine so der andere so. Keine klare Verpackung. TVU mit Jazz Style Corner, ein bisschen 126, HSK, PVC, Critas, Toptens, IND, PofC, ICY, NSK, PAL, TLS, Love Gang…Blade, Comet…Backjumps, Overkill, 70er, 80er, 90er, COBRA, Blaue Reiter im Mix mit Ghetto 46, Impressionismus, Expressionismus, Exhibitionismus, Future Beat im Klassik-Mix.“ (…).* Drei externe Autoren geben zudem einen anderen Blick auf diese Arbeiten: Die Kunstkritikerin Larissa Kikol, der Autor Tobias Barenthin Lindblad, der diese Serie in die Geschichte der abstrakten Graffiti einordnet (von FUTURA2000, SKKI bis zum Club of Rome und AKAY), und zuletzt kommt der Fotograf Emmett Edelstein zu Wort und nimmt uns mit auf eine Fotojagd der DIAMONDS Wholecars.

Das 180-seitige Buch kann man als eine Art hochwertigen Ausstellungskatalog betrachten: von spontanen, nicht-genehmigten, temporären, mobilen Ausstellungen abstrakter, anonymer Arbeiten im Berliner S-Bahn-Netz. Nur für ein paar Stunden sichtbar, von einem zufälligen Publikum erblickt oder gar erlebt, von aufmerksamen Fotografen für immer festgehalten, verschwinden diese künstlerischen Arbeiten dann für immer aus dem Verkehr.

* DIAMONDS, „DIAMONDS – Moving Cathedrals“, Herausgeber Verlag Hitzerot, Berlin, 2023, S.41.



https://hood-projects.de
https://hitzerot.com/product/diamonds-moving-cathedrals/

Katia Hermann
French-German art historian, curator and writer. After her studies of art history and cultural management in Paris, Katia moved to Berlin in 2001. For twenty years, she has worked as a freelance exhibition-maker/curator, cultural manager, writer and translator. After working for documentary film- and exhibition productions, she curated thematic exhibitions of modern & contemporary art and photography for institutions, project spaces and galleries. She always endeavors to promote artists with contemporary relevant topics, new visual languages, and tries to mediate to a wide public. After her research grant for fine arts with the topic Urban Art Berlin (Berliner Senate Department of Culture and Europe) in 2017, she initiated and coordinated the Urban Art Week in Berlin in 2018 and 2019. The photo exhibition BERLIN: WRITING GRAFFITI started 2019 to tour to Brussels with a publication. Beside her curatorial practice, Katia gives art tours and writes about urban art, contemporary art, and in particular about post-graffiti painters for magazines and blogs.

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