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Der Berliner Graffiti Writer KASE

, by Katia Hermann

Jedes Bild ist ein Findungsprozess


Im Berliner Chaos der 90er Jahre

Im Alter von 11 bis 14 Jahren wuchs KASE in unmittelbarer Nähe des ehemaligen Mauerstreifens auf. Das Niemandsland und die darin verborgenen Orte wie z.B. das Fort Hahneberg, übten schon damals eine ganz besondere Faszination auf ihn aus. Die frühen 90er Jahre in der ehemaligen Ostzone waren für ihn eine spannende aber auch sehr chaotische Zeit: “Beide Eltern verloren ihre Jobs und unser altes Haus wurde an den ehemaligen Besitzer aus dem Westen zurückübertragen. Im Alltag überschlugen sich die Ereignisse ständig. Alle mir bekannten gesellschaftlichen Regeln waren – gefühlt – außer Kraft gesetzt. Es war die Zeit, als Freunde mit geklauten Autos bei der Schule vorfuhren und wir zusammen in West-Berlin erste nächtliche Ausflüge zu den damals unzählig stattfindenen Techno-Parties unternahmen. In dieser Zeit tauchten die ersten Graffitis in meiner unmittelbaren Umgebung auf und auch ich malte 1993 mein erstes Graffiti und es wurde sofort zu einer Leidenschaft. Es gab mir Selbstvertrauen, das Gefühl von Freiheit und bescherte mir viele Abenteuer”. Einige Jahre später trat er der BAD-Crew bei. Aktiver Writer bis 2006, machte er eine lange Schaffenspause bis circa 2012. Seitdem malt er wieder gerne an der Wand, an Halls aber meistens in Lost Places im Umland Berlins. Denn für den Writer spielt beim Graffiti die Aneignung eines Ortes noch immer eine sehr wichtige Rolle: „Es sind Orte wie damals im Train Yard oder heute im Lost Place, wo sich eine ursprüngliche Freiheit abseits von unserer materialistische geprägten Gesellschaft erfahren lässt. Bilder, die unter solchen Bedingungen entstehen, egal ob bewusst oder unbewusst, sind für mich daher auch immer politische Statements.“



Die Buchstaben als Volumen, um den Raum zu öffnen

Zum Thema wie er zu seinem Writer-Namen kam, meint KASE „Klang gut. Es gab natürlich die leider schon verstorbene Ikone KASE2/CASE2 aus NYC, doch davon erfuhr ich erst ein paar Jahre später. Das Wort „Kase“ finde ich an sich gar nicht so entscheidend. Ich hätte wohl auch 20 Jahre lang immer wieder das gleiche Stillleben malen können. Entscheidend dabei ist das immer wieder die gleichen Elemente vorkommen. Die Formen der Buchstaben und ihr Rhythmus sind hilfreich, obwohl sie augenscheinlich keine große Rolle mehr spielen. Sie sind gleichermaßen Anker und Herausforderung. Der Anker bedeutet man kann ohne viel nachdenken zu müssen einfach ein neues Bild anfangen. Es braucht dazu also nicht immer eine neue Idee oder ein Konzept. Und genau daher macht es bis heute Spaß. Die Herausforderung ist dem Ganzen immer wieder neue Impulse oder Ansätze zu geben.“



Die innovativen 3D-Styles von DELTA und DAIM damals ließen auch KASE nicht unberührt, denn bei der Zweidimensionalität im Graffiti fehlten auch ihm auf Dauer gewisse Dimensionen. Er fing an seinen Buchstaben mehr Raum und Tiefe zu verleihen, indem er anfing den umgebenden Raum der Wand als wichtige Komponente im Piece, in der Bildgestaltung, mit aufzunehmen, um neue Kompositionen mit Volumen und Tiefe zu schaffen und den Raum zu öffnen. Die kubistische Malerei inspirierte KASE ebenfalls, laut ihm im Aufbrechen der Flächen, um diese dann wieder neu und mit Raumtiefe zusammenzusetzen. Und dennoch verwendet KASE absichtlich auch falsche Perspektiven von Flächen in seinen Bildern, baut ebenfalls einfache grafische Formen mit ein und erzeugt somit eine gewisse Spannung in der Gesamtkomposition. Manchmal macht er vorher Skizzen, doch oft improvisiert er dann doch direkt an der Wand, je nach Beschaffenheit und Zustand der Wand, je nach architektonischen Elementen an der auserwählten Mauerfläche.



Das Piece findet sich im Malprozess

Die vier Buchstaben seines Namens bleiben jedoch weiterhin seine Basis, sein Motiv, auch wenn sie immer mehr abstrahiert werden. Er experimentiert immer wieder damit, verzerrt, verdreht, versetzt sie und zieht auch räumliche Fluchten ohne bestimmtes Ende. Hinzu fügen sich weitere Formen und Volumen. Jedes Bild ist für KASE ein neuer Findungsprozess. Und was damals mit der Technik der Sprühdose begann, hat sich heute hauptsächlich als Wandmalerei mit Rolle und Dispersionsfarbe entwickelt. Denn als er wieder anfing in Lost Places ab 2012 zu experimentierten, meist alleine oder mit anderen Writern wie mit seinem Freund GATE, merkte er schnell, dass die Beschaffenheiten und Zustände der Untergründe, meist alte Mauern, mit Sprühlack bemalt, nicht immer gute Resultate hervorbrachten. So fing er an Dispersionsfarbe und kleine Malerrollen zu verwenden, die er heute fast ausschließlich anwendet und immer wieder neu für seine Pieces einsetzt. Die Rolle ermöglicht ihm auch – im Gegenteil zum Pinsel – mit derselben Geste wie mit einer Sprühdose lange Linien zu ziehen, weil die Farbe dicker und länger haftet. Das Ausmalen der Flächen und die Farbübergänge und Schattierungen direkt an der Wand mit Rolle zu mischen, genießt er ebenfalls. Sie ist zu seinem Werkzeug geworden, mit dem er immer wieder neue Anwendungen und malerische Resultate findet. Einige, eher seltene Pieces, integrieren spielerisch Elemente der auserwählten Wand, wie z.B. ein Fenster, ein Schild oder andere architektonische Elemente. Daher malt er auch sehr gerne weiterhin in Lost Places, um schöne Stellen zu finden und dort die Ruhe und Zeit für den konzentriert teils improvisierten Malprozess zu genießen. Und an diesen verlassenen Orten leuchten Pieces eben besonders farbig, an altem Gemäuer, umgeben von Pflanzen. Vor allem kommt ein Piece zur Geltung, wenn es alleine steht und bekommt durch die unmittelbare Umgebung, die auserwählte Stelle der übrig gebliebenen Bausubstanz, eine beeindruckende Wirkung in situ. Doch auch auf den dokumentierenden Fotografien, die eine wichtige Rolle in der Präsentation, in der Veröffentlichung der Arbeit online spielen, kann ein Piece in seiner Umgebung ebenfalls eine besondere Energie entfalten.



Der innere Battle-Gedanke

Die Wahl der Farben, die KASE verwendet, hängt auch manchmal davon ab, was er für das nächstmögliche Malen noch zur Verfügung hat. Drei bis vier Grundfarben und dann verschiedene Töne mischen ist da seine Herangehensweise. Seine Farbpalette ist dominiert von Grün- und Blautönen neben Rot-Rosa-Tönen. In letzter Zeit arbeitet er gerne Ton in Ton, mit hellen und dunklen Feldern im Bild, um mehr Kontrast zu erzeugen. Seine meist geometrischen Formen sind eckig oder abgerundet wie die vier Buchstaben von KASE auch und erhalten dank Aufbau, Perspektive und Kontrast ihr Volumen. Volumen und Flächen verzahnen sich oft ineinander, überschneiden sich an gewissen Stellen wieder als flache Flächen und erhalten durch die Ausrichtung und Gewichtung untereinander eine unglaubliche Dynamik und Schwung an der Wand. Der Berliner Writer schafft es den vielförmigen Volumen unterschiedliches Gewicht zu geben und sowohl Kraft, Energie und eine starke Präsenz seinen Pieces zu verleihen.



In seinen letzten Arbeiten mit größeren, ineinander verzahnten Volumen in blaugrünen Tönen, erzeugt er zudem durch die Abtönung der Farbe, das Spiel mit Licht und Schatten und etwas unscharfen, rauen Linien/Highlights, eine neue Textur und Beschaffenheit des Pieces. Es fühlt sich an wie der Stein oder der Beton der Wand, kompakt, massiv, etwas rau. Seine letzten Arbeiten wirken tatsächlich immer skulpturaler. Viele seiner Pieces wären jedoch als Skulptur gar nicht umsetzbar durch unmögliche Perspektiven, optische Täuschungen und Überschneidungen von Flächen im Bild. Und doch erinnern sie mit ihren Volumen als kompaktes geschlossenes Piece an bildhauerische Arbeiten, an Skulpturen der Moderne. Und seine Bildsprache – trotz Namewriting – erinnert in einigen Aspekten an die moderne Malerei des 20. Jahrhunderts, wie an den Kubismus und Futurismus. Und diese Bildsprachen, in der Malerei, waren damals progressiv, avantgardistisch, revolutionär. Und auch wenn die Pieces von KASE sich immer mehr zu abstrahierten gemalten Wandmalereien entwickeln, zu Objekt-haften Bildern, geometrischen Gebilden, indem die Buchstaben transformiert, architektonisiert, maskiert oder gar verschluckt werden, sind es immer noch Pieces. KASE sieht sich eh weiterhin als Writer. Er ist aber ein malerisch arbeitender Graffiti-Künstler mit erweiterten Werkzeugen, Techniken und Sichtweisen, aus der Ära Post Graffiti mit Parallelen zur progressiven Moderne. Laut ihm ist Graffiti auch immer progressiv gewesen. Ein wichtiger Aspekt und Antrieb für alle Writer ist hier auch der Battle-Gedanke: „Sich immer wieder an seinem letzten Werk messen lassen zu müssen. Aber auch sich immer wieder neu zu erfinden, um in der Flut von Bildern nicht unterzugehen. Dadurch, dass Graffiti sich nicht festlegen lässt, hat es einen enorm großen Vorteil gegenüber anderen Bewegungen. Ich schätze diese Freiheit sehr (…). Graffiti hat wahrscheinlich immer noch bei vielen (Unwissenden) ein schlechtes Image. Dabei ist doch gerade die Diversität das Geile daran. Wenn Graffiti bedeutet, sich nicht festlegen zu müssen, und Spielraum für Veränderungen zu haben ohne mich rechtfertigen zu müssen, dann ist es das, was ich will. Die Kunstspielwiese überlasse ich gerne den anderen.“



instagram.com/nonfungibilly

Katia Hermann
French-German art historian, curator and writer. After her studies of art history and cultural management in Paris, Katia moved to Berlin in 2001. For twenty years, she has worked as a freelance exhibition-maker/curator, cultural manager, writer and translator. After working for documentary film- and exhibition productions, she curated thematic exhibitions of modern & contemporary art and photography for institutions, project spaces and galleries. She always endeavors to promote artists with contemporary relevant topics, new visual languages, and tries to mediate to a wide public. After her research grant for fine arts with the topic Urban Art Berlin (Berliner Senate Department of Culture and Europe) in 2017, she initiated and coordinated the Urban Art Week in Berlin in 2018 and 2019. The photo exhibition BERLIN: WRITING GRAFFITI started 2019 to tour to Brussels with a publication. Beside her curatorial practice, Katia gives art tours and writes about urban art, contemporary art, and in particular about post-graffiti painters for magazines and blogs.

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