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SLAK, konstruktivistisches Graffiti in Russland: Losgelöstheit von Realität und Zeit

, by Katia Hermann

Anfänge in Zeiten des Umbruchs in Russland

SLAK wurde 1986 geboren und wuchs in einem kleinen Dorf (Beloozersky) auf, das 70 km von Moskau entfernt liegt und wo er auch heute noch lebt. Seine Eltern haben zu Hause viel gezeichnet, sein Vater beschäftigte sich zudem mit Fotografie und seine Mutter mit Schneidern. Daher zeichnete SLAK schon als Kind, meistens zusammen mit seinem Vater und natürlicherweise zeichnete er damals nur gegenständlich. Er besuchte als Kind zudem eine Kunstschule und absolvierte später neben seiner Hochschulausbildung am Institut für Physik und Mathematik viele Kurse in Grafikdesign, um Instrumenteningenieur zu werden.

SLAKs Jugend wurde geprägt von einer sehr harten Zeit in Russland. Es war der Zusammenbruch der Sowjetunion und es folgten zehn Jahre lang anarchische Zeiten, in denen es häufig zu Zerstörungen, Zusammenstößen mit der Polizei und subkulturellen Kämpfen kam.

SLAKs erste Begegnung mit Graffiti war in Rap-Musikvideos auf MTV. Ein paar Jahre später bekam er auch Graffiti aus russischen Fernsehsendern mit. Und er fand in Graffiti, laut ihm, genau das, was er brauchte : Dynamik der Formen, Freiheit des Ausdrucks, „Straßenromantik“ und natürlich die Technik selbst. Im Gegensatz zu den meisten Writern jener Zeit gehörte SLAK nicht der Hip-Hop-Kultur an, sondern mochte elektronische Musik, dessen Einfluss sich auch in einigen seiner frühen Zeichnungen wiederfindet. Im Jahr 2003 kam ein Freund mit einer Sprühdose zu ihm und brachte ihn dazu, Graffiti zu malen, womit er seitdem nie aufgehört hat. Lange Zeit zeichnete er eher spontan, nahm Tags als Beschriftungen, Schriftzüge für Betitelungen und arbeitete mit Farben und Markern schlechter Qualität. Er dachte damals nicht über einen Begriff wie Style nach, geschweige denn über dessen Entwicklung. Er zeichnete aus dem Gedächtnis Graffiti Pieces, die er in Rap-Videos gesehen hatte. Wahrscheinlich waren die meisten davon im amerikanischen Wild Style, erinnert sich SLAK. Später, als er Zugang zu mehr Informationen hatte, entdeckte er Cope2, den er eine Zeit lang bewunderte. Doch bevor der junge Russe 2006 Zugang zum Internet hatte, wusste er tatsächlich nicht viel über andere Graffiti Künstler. Und neben Style Writing interessierte er sich auch für die Ästhetik von Videospielen. Die Characters aus „Street Fighter“ und anderen ähnlichen Spielen faszinierten ihn ebenso wie japanische Rollenspiele, insbesondere die „Final Fantasy“- Reihe. Der Schlüsselmoment für SLAK, in dem ihm aber klar wurde, dass Graffiti 100%ig zu ihm passt, war der Besuch des Nescafe Festivals im Jahr 2005 und der Kauf der ersten Ausgabe des „Code Red Magazine“.




Als er 2006 endlich Internetzugang bekam, wurde es viel einfacher, Informationen und Inspirationen zu bekommen, sich mit Material und Utensilien zu versorgen und mit Leuten in Kontakt zu treten. So begann SLAK im Jahr 2007, bewusst an seinem Stil zu arbeiten. In den Anfängen malte der junge russische Writer viele Namen mit unterschiedlichen Buchstaben, wie MNIM, SON, HATE, KILO, SLAK, ILYA, SLAG, etc. Erst seit gewisser Zeit schreibt er nur noch SLAK und schätzt diese vier Buchstaben bis heute. Seine erste Crew gründete er mit seinem Freund, mit dem er 2003 anfing, sie hieß BO-Crew. Später interessierte sich SLAK mehr für komplizierte Zeichnungen und ausgefeilte Pieces, und sein Freund mehr für das Bombing (in der Gnews-Crew aktiv). Später war SLAK kurzzeitig auch Teil der Crews UNS (mit TOMAR) und PSY (zusammen mit ZONCKER und OKADA).



Aesthetics group

2006 traf SLAK den russischen Writer PETRO das erste Mal, als er noch in der PSY-Crew war. PETRO hatte bereits 2004 mit MBOS und MAYPE eine Crew organisiert. Im Jahr 2008 lud er SLAK ein, sich ihrem Team anzuschließen, das sich AES – Aerosol Systems nannte. Später kamen noch weitere Mitglieder wie VEDRO und SUGAR18 hinzu. Der Name wurde dann 2015 in Aesthetics Group geändert, zusammen mit Änderungen im Stil und der Hinwendung zur Abstraktion. PETRO und SLAK beschlossen, zusammenzuarbeiten, weil es vom Stil her logisch war, sie ähnliche Ansichten teilten, die sich in der gleichen künstlerischen Formensprache widerspiegelten, und sie seit mehr als zehn Jahren für ihre Graffiti- und Studioarbeiten verwenden: die Geometrie. Aus ästhetischer und ideologischer Sicht hat das Duo den Weg vom klassischen Graffiti zum konstruktivistischen Post-Graffiti gefunden und weiterentwickelt. In der Regel verbinden ihre Werke ästhetische Ziele, visuelle Erfahrungen der beiden Künstler mit dem ständigen Wunsch nach Wissenserweiterung. Sie haben einen einzigartigen Stil entwickelt, bei dem sie in all ihren Kunstwerken einen eigenständigen Ansatz verfolgen, wobei sie keinen Unterschied machen zwischen Werken, die auf der Straße, für Ausstellungen in Galerien oder als Auftragsarbeiten entstehen. Ihre künstlerische Praxis umfasst Wandmalerei, Muralismus, Malerei auf Leinwand, digitale Illustrationen, Grafiken, Collagen, etc.



Losgelöstheit von Realität und Zeit

SLAKs Stil entwickelte sich in circa 20 Jahren von einem eher kantigen Wild Style, zu figurativen Arbeiten, die von der Ästhetik der Videospiele geprägt waren, über einen geometrisch-futuristischen Stil in den Jahren 2009-2010 hin zu geometrischer Abstraktion, bei der keine Buchstaben mehr lesbar sind. Bevor er das Lettering ganz aufgab, arbeitete der Style Writer mehrmals in verschiedenen Schaffensperioden mit dem russischen Alphabet, um seinen einzigartigen Stil weiterzuentwickeln. Er erkannte, dass es viel komplizierter ist als das lateinische Alphabet, er nennt die kyrillische Schrift eine ausgiebige Konstruktion und ein komplettes Puzzle. Die Arbeit mit der russischen Schrift brachte ihm viele neue Ideen und Erkenntnisse im Zusammenhang mit der Arbeit mit der Form im Allgemeinen.



In dieser Zeit des Wandels zur geometrischen Abstraktion schloss er sein Studium ab, arbeitete als Ingenieur auf einem Testgelände für Raketentriebwerke und war für die Genauigkeit der Instrumente verantwortlich. In dieser Zeit besuchte er auch Kurse in Grafikdesign, studierte Grafikbearbeitung, was ihm neue Horizonte eröffnete. SLAK begann, sich für Kunstgeschichte und Fachliteratur zu interessieren und las über die moderne russische Avantgarde vom Anfang des 20. Jahrhunderts, über die Werke von Kandinsky, Malewitsch und anderen. Noch heute bewundert er die Werke von Malewitsch, Lissitzky, Tatlin, Rodtschenko, Moholy-Nagy und anderen Künstlern dieser Zeit. Der Konstruktivismus ist immer noch eine große ästhetische und theoretische Inspirationsquelle, eine Ausdrucksform der ungegenständlichen Kunst, die nicht vom Gegenständlichen abstrahiert. SLAK las Manifeste und bezog sich auf das Gemälde „Schwarze Quadrat“ von Malewitsch, das oft als Nullpunkt der Malerei bezeichnet wird, als Basis oder maximal reduzierter Ausgangspunkt für alles andere. Es entstand zu einer Zeit, als sich Russland, wie die europäische Kultur insgesamt, an einem Wendepunkt befand, als in vielen großen Städten wie Berlin, Wien oder St. Petersburg grundlegende neue Fragen über Gesellschaft, Religion und Kunst gestellt wurden. Fragen, die letztendlich den Ausgangspunkt der Moderne bildeten. In SLAKs Augen ist das Gemälde „Schwarzes Quadrat“ wie Jesus im Christentum oder die Null in der Mathematik, vor und nach ihm. Ihm gefällt auch das von Malewitsch gegründete Konzept des Suprematismus, im Gegensatz zu seinen Vorgängern versuchte er zeitlose Werke zu schaffen, die das Wesen des Bildes durch geometrische Formen ausdrückt.



Etwa 2012, eines Tages während einer Fahrradtour, erinnert sich SLAK an diesen Moment, in dem ihm klar wurde, dass seine halb-abstrakten Pieces als Kompositionen nicht vollständig funktionierten, weil die Formen der Buchstaben – unter allen Umständen – ihre eigenen starren Regeln vorgeben. Er wollte versuchen, ohne jegliche Einschränkungen zu zeichnen und zu malen. Die ersten Versuche mit reiner Geometrie startete er 2013 und es stellte sich heraus, dass es noch komplizierter war als mit Lettering, so der Künstler. Seitdem versucht SLAK, seine Kunstwerke in einer Art Vakuum zu halten, losgelöst von der Realität und der Zeit. Inspiriert von Bildsprachen der Vergangenheit, lässt er diese Eindrücke auf interessante und schöne Weise für seine Graffiti Pieces in der Gegenwart einfließen.



Wenn SLAK im Freien malt, passt er seine Kompositionen an den Raum an, und dies unter rein visuellen Kriterien. Seine Kompositionen sind grafisch, präzise und durchdacht, basieren meist auf Geometrie und haben keine Handlung oder Botschaft. SLAK zufolge sind seine Werke die Fixierung seiner inneren Zustände und Erfahrungen zum Zeitpunkt der Entstehung. Er sagt: „Der Mensch ist ein sehr schwieriges Gebilde und Gefühle, die wir erleben, sind viel schwieriger, als wir sie literarisch beschreiben können, manchmal ist man zum Beispiel fröhlich und traurig zugleich, Melancholie und Euphorie liegen in der gleichen Zeiteinheit. Das sind die subtilen Grenzzustände, die ich zu erfassen versuche.“



Vorgehens- und Arbeitsweise

Technisch strebt der russische Writer nach Perfektion und verwendet eine breite Palette an Hilfsmitteln wie Klebeband, Winkellehre, Seile und Projektoren, um ausschließlich mit Sprühfarbe zu malen – sowohl auf Wänden als auch auf Leinwänden. SLAK hält sich an die Meinung des russischen Konstruktivisten El Lissitzky, dass der Künstler durch Gedanken schafft und es keine Rolle spielt, was seine Hände benutzen: einen Pinsel, einen Zirkel, ein Lineal, etc. Es ist nur ein Werkzeug, das Ende seiner Hand, das von seinem Bewusstsein kontrolliert wird. In dieser Hinsicht hat sich SLAK nie die Aufgabe gestellt, das Publikum mit der Beherrschung irgendeines besonderen Caps zu überraschen, seine Aufgabe ist ausschließlich das Ergebnis einer ausgewogenen kraftvollen abstrakten geometrischen Komposition. Manchmal grundiert er den Hintergrund einer Wand, aber im Allgemeinen sucht er nach sauberen, ebenen Wänden und zieht es vor, wenn der Hintergrund aus Beton ist. Die durchschnittliche Größe seiner Wandarbeiten beträgt zwei mal sechs Meter. Für seine Pieces und auch für seine Atelierarbeiten arbeitet er immer mit einer maximalistischen Skizze, einer Blaupause, wie er sagt, die er im Voraus erstellt. Während des Malens ändert sich dann mal etwas, aber nicht zu viel, denn der Künstler möchte Kontrolle und Vertrauen im Ergebnis haben. Lange Zeit hat sich SLAK bei der Farbwahl für seine geometrisch abstrakten Arbeiten eingeschränkt. Eine Zeit lang hat er nur in Grau und Rot gearbeitet, er wollte mit Farben nicht prätentiös sein, als ein eher zurückhaltender Mensch, wie er sich selbst definiert, daher haben viele seiner Werke einen achromatischen Charakter. Doch in den letzten Jahren öffnet er sich wieder für eine buntere Palette für seine Arbeiten.



Was die Arbeit im Atelier betrifft, so beschreibt SLAK, dass der Hauptunterschied zu seiner Arbeit an der Wand darin besteht, dass er auf der Leinwand viel komplexere Kompositionen schafft, weil er definitiv mehr Zeit hat als draußen. Und doch schafft er auch hier viele Werke. In den letzten 15 Jahren hat SLAK unzählige Wandbilder gemalt, an vielen Ausstellungen mit seinen Atelierarbeiten teilgenommen und Murals realisiert, oft gemeinsam mit PETRO als Aesthetics group.



Seit letztem Jahr malt er seinen lesbaren Namen SLAK wieder vermehrt im Stadtraum und überdenkt hierfür die Konstruktion der Typografie neu. Vor den komplett abstrakten Arbeiten, versuchte er damals, seine Buchstaben in Abstraktion aufzulösen. Jetzt hat er damit aufgehört und will der Form die volle Kraft geben, jeder Buchstabe ist entblößt und nackt. Eine Art Ode an die Form, wie er sagt. Und SLAK trennt für sich nun endgültig die beiden stilistischen Richtungen des Letterings und der Abstraktion, zumindest vorläufig, in diesen chaotischen, unsicheren Zeiten.



instagram.com/slak_aesthetics

Katia Hermann
French-German art historian, curator and writer. After her studies of art history and cultural management in Paris, Katia moved to Berlin in 2001. For twenty years, she has worked as a freelance exhibition-maker/curator, cultural manager, writer and translator. After working for documentary film- and exhibition productions, she curated thematic exhibitions of modern & contemporary art and photography for institutions, project spaces and galleries. She always endeavors to promote artists with contemporary relevant topics, new visual languages, and tries to mediate to a wide public. After her research grant for fine arts with the topic Urban Art Berlin (Berliner Senate Department of Culture and Europe) in 2017, she initiated and coordinated the Urban Art Week in Berlin in 2018 and 2019. The photo exhibition BERLIN: WRITING GRAFFITI started 2019 to tour to Brussels with a publication. Beside her curatorial practice, Katia gives art tours and writes about urban art, contemporary art, and in particular about post-graffiti painters for magazines and blogs.

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