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Arnaud ENROC in Frankreich: Raum für Spiel und Intuition

, by Katia Hermann

Anfänge im ruralen Kontext

Arnaud Enroc wurde 1983 in Frankreich, in der Bretagne in Quimperlé geboren. Nach einiger Zeit, die er in in Lyon und Rennes verbrachte, zog er nach Nantes, wo er heute weiterhin lebt. Ende der 90er Jahre nahm er Graffiti Writing in der Stadt Lorient und Brest wahr und war fasziniert. Immer wieder fuhr er in diese Städte, um neue Pieces zu begutachten. Auch durch die Presse, Skate Magazine und das „Radical“ Magazin in Frankreich wuchs sein Interesse, bis er selber anfing zu zeichnen, Sprühdosen kaufte und sich auf Holzbretter im Garten seiner Eltern versuchte. Ein Freund von ihm war auch begeistert und wurde selbst aktiv. Zusammen bemalten sie anfangs Schrottfahrzeuge auf dem Land. Damals war sein erster Writername ASTEK. Es gab kaum Graffiti in der ländlichen Umgebung, selbst in verlassenen Fabriken konnten sie als erste ihre Pieces hinterlassen. Nur in Brest gab es damals einen Graffiti-Laden für Zubehör und als Enroc seinen Führerschein mit 18 Jahren erhielt, konnte er mobil sein, Orte mit Graffiti erkunden und auch andere Writer kennenlernen. Anfangs lagen seine stilistischen Einflüsse im klassischen Graffiti: Wild Style, Semi Wild Style und 3D-Style. In Brest gab es die Crew C29, die hauptsächlich im Wild Style malte und in Lorient hinterließen die Crews MOKER und BAN und vor allem DINO in einem 3D Style markante Pieces, die auch Enroc beeindruckten. Sowie auch die Throw ups von MOSEN. Ab 2002 malte er MAZE/MASE und gründete seine erste Crew SIA mit L’OUTSIDER und AHE. Damals waren die Pseudonyme der drei Mitglieder SANTOS (später AHEL), INTOX (später L’OUTSIDER) und ASTEK (später MAZE). Diese Crew wurde dann zu YOLERAP mit weiteren Mitgliedern wie PomZ, SNOBE, TAKOS, DGLS, PACK, AHEL, ICER und BONER. Von 2001 bis 2006 war Arnaud Enroc im klassischen Graffiti zuhause bis ihn dieses langweilte. Seine große Leidenschaft für Typographie blieb aber weiterhin bestehen und er erprobte neue Bildsprachen für das Malen seines Namens in den folgenden Jahren.



Mit den alten Codes brechen

Anfang der 2000er gab es schon weltweit einige Writer, die Graffiti neu überdachten und neuartige Stile entwickelten. Im Internet verfolgte Enroc diese Entwicklungen und vernetzte sich damals durch Webseiten wie aero.fr, fat cap, fotolog und auch streetfiles. Ab 2007 malte MASE absichtlich mit teils mangelhaft gezogenen Linien misslungene „unschuldige“ Buchstaben, wie er sie nennt, und fügte figurative Motive über seine Schriftzüge hinzu, die einem Sticker-Effekt ähnlich kamen. Diese realistisch gemalten Motive wie Pflanzen, Flugzeuge, klassische Architekturelemente oder antike Skulpturen wirken auf seinen Pieces eigenartig, bizarr verschoben, denn sie haben nichts mit dem Graffiti-Kontext zu tun. Enroc wollte in dieser Phase absichtlich keine Reproduktionen von bekannten klassischen Graffiti-Codes realisieren, sondern Codes aufbrechen, experimentieren, einen Anti Style schaffen. Miit einfachen Typographien, aus dem Kontext gerissenen gegenständlichen Motiven und somit untypische Pieces, schuf er Bilder, eine Art Mischwesen aus Graffiti und Malerei. Die Umrisse der Pieces waren nicht mehr nur horizontal wie ein Schriftzug angelegt, sondern teils oval oder unförmig oder sie wurden mit einem Rahmen ummalt. Einzelne simple kleine gezeichneten Buchstaben seines Pseudonyms wurden hier und da in die großen Buchstaben platziert.

Ab 2013 malte Enroc noch experimentierfreudiger. Die Lesbarkeit der Buchstaben interessierte ihn immer weniger, sondern es ging ihm viel mehr um Formen und Motive. Dafür griff er auch gerne auf Kitsch zurück, liess sich von beliebigen Bildern von der Fotoplattform tumblr inspirieren, verwendete Ornamente und figürliche einfache Darstellungen, wie z.B. auch das Motif der Vase, welches bis heute immer wieder in seinen Arbeiten auftaucht. Auch Zitate aus der klassischen Antike wie Säulen oder der klassischen Moderne, wie der weltberühmte Scherenschnitt von Matisse „ Nu bleu“ werden von ihm als Motif collageartig hinzugefügt. Der französische Künstler Matisse ist mit seiner flächenhaften Farbgebung und spannungsgeladenen Linien, spielerischem Bildaufbau, Leichtigkeit seiner Bildthemen und im Spätwerk die Konzentration auf das Wesentliche weiterhin eine Inspirationsquelle für den französischen Writer. Sowie in den Scherenschnitten das Spiel mit Leere und Fülle ein wichtiges Thema ist, so ist es auch Thema im Schaffen von Enroc. Die Malerei der Moderne inspiriert Enroc für seine Bildsprache bis heute, auch wenn er sich, laut ihm, nicht tiefgründig damit befasst hat. Dennoch drehen sich seine Arbeiten weiterhin um den Buchstaben, den er in seinen Pieces konstruiert und de-konstruiert, abstrahiert, in geometrische Formen stilisiert oder gar verschwinden lässt, und dies zugunsten einer experimentellen malerischen Ästhetik.



Spiel mit Alphabeten, Typographien, Zitaten und GIF-Animationen

In den folgenden Jahren experimentiert Enroc weiter und schafft viele Arbeiten, die teils wie eine Montage wirken mit Elementen aus der naiven Malerei oder der Pop Art. Das Zusammensetzen von Flächen mit Mustern, abstrakten Farbverläufen, figürlichen Darstellung von Gegenständen wie die Vase, die Buchstaben werden, sowie Logos aus unserem gegenwärtigen Alltag, wie das von Nike oder Shell, bilden malerische Bilder. Mit simpel gehaltenen Formen und erkennbaren Zitaten aus unserer westlichen Kultur werden hier die Buchstaben nicht mehr klar lesbar.

Zu dieser Zeit, 2015, wird er Teil des Freundeskollektivs Moderne Jazz, das mittlerweile viele Mitglieder hat, und die alle mit den klassischen Graffiti-Codes brechen und sich auf neuartige Formen und teils mit abstrakten Graffiti beschäftigen (GSULF, MATI, TORPEN, FRIDA, AKBAR, NOTEEN, DJOB,DUCON, OBISK, RIOT, QUENTIN CHAMBRY, JORIS GOULENOK, HAMS, OPAR, CHRIST, SOIR, L’OUTSIDER, YMMOT, YOR81, COR21, ISHEM, ELIOT, MAZE). 2016 wird Enroc auch Teil der Crew YY mit vielen anderen Mitgliedern der Crew Moderne Jazz sowie später Teil der Crew CDG. Der gegenseitige Einfluss der Crew-Mitglieder mit ihren diversen Stilen ist bei einigen spürbar und dennoch hat jeder Writer seinen ganz eigenen Stil entwickelt. Vor allem die Arbeiten von ISHEM, GSULF und YOR81 haben laut Enroc für sein Schaffen Spuren hinterlassen, die in seiner Bildsprache teils auch unbewusst in anderen Formen erscheinen.



2017 entwickelte Enroc die reduzierte Form eines Autos mit einem Rechteck und Kreisen (für die Räder.), die er in einigen Pieces einsetzte. Durch die Räder kam Enroc auf die Idee diese auf dem Foto des Pieces mit einer Software zu animieren. Er wollte sie zum Drehen bringen und schaffte somit seine erste GIF-Animation. Weitere Animationen schuf er später mit Kugeln, die entlang seiner Pieces wie auf einer Bahn rollen. Dieses neue spielerische digitale Medium mündete im Schaffen von speziell hierfür gestalteten Arbeiten an der Wand: in denen wurden alle abstrahierten Buchstabenformen miteinander verkettet und so konstruiert, dass die Kugel perfekt wie auf einer Achterbahn hoch und runter im Bild entlang den Formen rollen kann.




In dieser Phase konstruiert Enroc seine Buchstaben vermehrt mit geometrischen kantigen und runden, voluminösen Formen, die miteinander verkettet sind, aus einem Strich gezogen wie bei der Schreibschrift und kaum entzifferbar sind. Das Spiel mit Leere und Fülle, Außenform und Binnenformen der Buchstaben verwischen die Logik und Lesbarkeit der Schriftbilder. Er integriert in seine Kompositionen zudem kleine simple Druckbuchstaben, wie Inschriften, wie geritztes Graffiti, und Buchstaben aus anderen Alphabeten wie aus dem kyrillischen Alphabet oder koreanische Schriftzeichen. Inschriften und neue Buchstabenformen, die teils kryptisch, antik, bizarr und im Kontext futuristisch wirken. Enroc spielt gerne mit Spurenverwischung und visuellen Irreführungen, indem er z.B. andere Buchstaben für seinen Writernamen einsetzt, wie z.B. den nächsten Buchstaben im römischen Alphabet seiner vier Buchstaben seines Namens benutzt und somit einen neuen Namen kreiert. In manchen seiner Arbeiten integriert er ab 2014 mehrmals das Nike-Logo. Als Erkennungsmerkmal für jedermann wird es hier als pure Form eingesetzt, die mit ihrem Schwung auch an den typischen Pfeil oder Ausschweifungen eines Buchstabens im klassischen Graffiti erinnert.

Seit 2019 sind die Buchstabenformen in seinen Pieces offener, fast ohne Outlines, nur die Innenflächen werden mit verschiedenen Farben abstrakt gefüllt. Er findet zurück zu simplen Formen in Anlehnung an Throw ups, die er mit ihrer schnellen spontanen Gestik in der Ausführung sehr schätzt. Enroc arbeitet gerne mit Unfällen während der Exekution an der Wand eines vorher skizzierten Piece. Denn er geht immer mit einer schwarzweißen Skizze in der Hand an die Wand, zeichnet viel, auf Papier oder auch auf einem Pad, für welche er auch seine Intuition und Spontaneität zulässt. Für seine Wandmalereien hat er seine eigene Mischtechnik entwickelt und arbeitet mit Wandfarben, Pinseln, Rollen, Autolack und Sprühlack. Früher mischte er Farben mit viel weiß an, sodass er oft mit pastellen Tönen malte. Schwarz-weiß Arbeiten schätzt er weiterhin sehr und heute lässt er sich für die Farbwahl auch aus einem japanischen Buch beraten, das diverse Farbkombinationen von drei bis vier Farben vorschlägt.



Studioarbeiten: zeichnen und formen

Seit 2011 zeichnet Enroc regelmäßig mit Acrylfarben auf Papier. Er verwendet dafür dicke Pinsel und spielt mit Farbtransparenzen, die die Pinselspur und Malgeste deutlich sichtbar werden lassen. Eine breite Linie formt eine gerade, eckige sowie runde simple miteinander verbundene Form, eine schwebende Form im Raum, die mit einer Linie „geschrieben“ wurde. Spontan, intuitiv und dynamisch realisiert, wirken die Arbeiten frei und dennoch konstruiert, spontan in der Formfindung, aber spürbar mit gekonnter sicherer Geste ausgeführt.

Das Interesse des französischen Künstlers für das Motiv der Vase führte ihn zur Arbeit mit Ton und Keramikkunst. Er wollte den Gegenstand selbst schaffen, ihn formen, brennen, lackieren, bemalen. Es entstanden kleine Skulpturen, Objekte, die als Vase erkennbar bleiben, durch die Henkel z.B., und dennoch in ihrer klassischen Form verformt wurden, deformiert, intuitiv unvollkommen und „kindlich“ dargestellt. Manche werden mit einem Nike, YSL oder Fila- Logo dadaistisch ins Absurdum geführt. Sowie Enroc für seine Graffiti Pieces immer wieder mit klassischen Darstellungsweisen bricht, freier und verspielter arbeitet, indem er seiner Intuition Raum gibt und folgt, so setzt er auch genau diese Einstellung für die Schaffung seiner Studioarbeiten ein.


arnaudenroc.com
instagram.com/arnaudenroc

Katia Hermann
French-German art historian, curator and writer. After her studies of art history and cultural management in Paris, Katia moved to Berlin in 2001. For twenty years, she has worked as a freelance exhibition-maker/curator, cultural manager, writer and translator. After working for documentary film- and exhibition productions, she curated thematic exhibitions of modern & contemporary art and photography for institutions, project spaces and galleries. She always endeavors to promote artists with contemporary relevant topics, new visual languages, and tries to mediate to a wide public. After her research grant for fine arts with the topic Urban Art Berlin (Berliner Senate Department of Culture and Europe) in 2017, she initiated and coordinated the Urban Art Week in Berlin in 2018 and 2019. The photo exhibition BERLIN: WRITING GRAFFITI started 2019 to tour to Brussels with a publication. Beside her curatorial practice, Katia gives art tours and writes about urban art, contemporary art, and in particular about post-graffiti painters for magazines and blogs.

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