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BOE – Die Schaffung von Piece-Prototypen

, by Katia Hermann

Der in Berlin lebende Writer BOE wuchs in Heilbronn auf. 1991 fing er an, sich dort für Style Writing zu interessieren und selbst aktiv zu werden. Als er 1996 nach Mainz zog, um dort Kommunikationsdesign zu studieren, lernte er weitere Graffiti Writer kennen und gründete mit Crew-Mitgliedern 1998 das Künstlerkollektiv Viagrafik im nahe gelegenen Wiesbaden, um gemeinsam Auftragsarbeiten, Ausstellungen und freie Projekte zu realisieren. So stellten sie gemeinsam bei einer zu dieser Zeit wichtigsten Urban Art-Ausstellungen in Deutschland aus, bei der Urban Discipline in Hamburg 2002. Die bis heute existierende Agentur Via Grafik wurde 2002 in Mainz gegründet und erfuhr Mitte der 2000er Jahre viel Öffentlichkeit. Mit ihren vielschichtigen Arbeiten nahm das Kollektiv an etlichen Ausstellungen und Festivals in Europa teil. Sie wurden im Bereich Grafikdesign/Illustration/Graffiti/Kunst zahlreich veröffentlicht. 2005 erschien bei Pyramid Editions die Viagrafik-Monographie „choose your weapon!“. Die kreativen Köpfe des Kollektivs beschäftigten sich intensiv mit neuen Erscheinungsformen und den Wechselwirkungen zwischen Grafikdesign und Graffiti.



BOE lebte von 2005 bis 2013 in Wiesbaden, bevor er dann endgültig nach Berlin zog, in die Stadt, die er durch familiäre Beziehungen schon sein Leben lang regelmäßig besuchte. BOE war immer begeistert von den vielen neuartigen Stilrichtungen in Berlin im Graffiti-Bereich. Heilbronn war in den 90ern laut BOE einerseits stark vom Graffiti aus München und Basel beeinflusst, andere Writer dort waren von der Heidelberger Schule beeinflusst. In Berlin entdeckte BOE andersartige Formen des Graffiti, lernte viele Writer kennen und freundete sich dem Kreis von der Crew KHC an.



Die Arbeit an der Silhouette

Anfangs oft zweifarbig gehalten, malt BOE seine Pieces mit abgerundeten Buchstabenformen, immer auf der Suche nach eigenen und neuen Formsprachen für jedes einzelne Piece. Durch seine gewollte Farbrestriktion mit Schwarz oder noch einer zusätzlichen Farbe ist die Konzentration ganz auf die Form gelegt. Seine Arbeiten an Halls oder Lost Places in den 2000er Jahren zeigen stilisierte Buchstaben mit Linien und Pfeilen umgeben, manchmal Comic-artig, und zeugen von BOE’s spielerischer Weise, immer neue Möglichkeiten zu finden, um die Buchstaben seines Namens neu zu definieren und in neue Relationen, Dynamiken und Spannungen zu bringen. Für die Formfindung richtet er sich weniger nach dem Skelett der Buchstaben, sondern geht stark von der Außenform aus, dem Umriss, der Silhouette. Die Binnenformen der Buchstaben sind meist minimal gehalten und als kleines grafisches Indiz eingefügt, wie z.B. ein kleiner Strich. Um die originellen Formen der Buchstaben nicht zu stören, verzichtet BOE auf Verbindungen zwischen den Buchstaben. Er sprengt Größenverhältnisse unter den drei Buchstaben und kreiert Spannung in der Komposition unter ihnen. In manchen Arbeiten integriert er Farbflächen, die Raum schaffen, in anderen integriert er Texturen wie z.B. die Knülloptik, oder durch Striche, Punkte und andere Elemente. Meistens arbeitet BOE flächig, in manchen Arbeiten ist aber auch Volumen und Perspektive angedeutet. Zu Beginn der 2000er wird BOE’s Formsprache geometrischer, Linien werden begradigt und die Farbpalette auch bei Buntpieces wird zunehmend reduzierter. Die Atmosphäre, die seine Pieces erzeugen, wird dadurch ernsthafter. Eine zunächst präzise Umsetzung der Formen wird dann im Lauf der Zeit abgelöst von einem raueren Strich, der auch durch den Wechsel auf ein anderes Cap zustande kommt. BOE möchte dadurch den zeichnerischen Ursprung seiner Arbeiten mehr zum Vorschein bringen.



Experimentieren mit Wirkung im Umfeld

Ende der 90er/Anfang 2000er malte BOE im Umkreis von Mainz und Wiesbaden öfter in Lost Places. Damals war es für Graffiti neu, dort spielerisch mit dem Umfeld zu experimentieren und auch die umgebende Architektur mit einzubeziehen. Die Fotos seiner Wandmalereien zeigen schon früh auch die unmittelbare Umgebung, in die das Piece integriert wurde und veranschaulichen somit deren Wirkung im Umfeld.

In der Serie „Desinformation“ von 2006 war BOE’s Konzept, ein Piece zu malen, ohne Piece zu sein: Buchstaben, d.h. geschriebene Informationen, sind nicht mehr vorhanden. Er erzeugt die Dynamik, die normalerweise in seinen Pieces steckt, über die Konstruktion und Anordnung von balkenartigen Formen mit grafischer Füllung und zusätzlichen malerischen Gesten, die für ihn Gestaltungsmethoden bei der Entwicklung und Ausführung von Pieces repräsentieren. Die Balkenformationen erinnern an Reste und Überbleibsel von Buchstaben. Eine Formation dünner schwarzer Linien deuten einen typografischen Informationsblock an, wie man ihn von ausgestellten Kunstwerken in Galerien und Museen kennt. Er wollte sich damals vom Namen als künstlerischen Inhalt seiner Bilder lösen. In dieser Zeit wollte BOE Bilder an Wänden schaffen, die einem universelleren Publikum zugänglich sind, als dies durch stilisierte und verschlungene Buchstaben möglich ist, um Graffiti als Bild/Wandmalerei zu betrachten und sich somit selbst von bestimmten Dogmen im Style Writing zu lösen und offener für künstlerische Experimente zu sein.



Prototypen erstellen

Eine Reihe von Pieces aus den letzten zehn Jahren formen einen rechteckigen horizontalen Block, bestehend aus seinen drei Buchstaben, die auf das Minimum reduziert sind, innen verschmelzen und durch die minimalen Punzen lesbar werden. Andere Arbeiten sind gänzlich abstrakt. BOE’s Arbeiten behalten dabei aber ihren meist freundlichen verspielten unkomplizierten Character bei. Sie sind minimalistisch, grafisch klar definiert und ausgewogen, mit Gefühl für die Malerei umgesetzt und haben eine besondere Wirkung in ihrer unmittelbarer Umgebung.

Momentan malt BOE eher sporadisch, wenn er die Zeit dafür findet, um eine präzise Idee umzusetzen und sich in der Formsprache weiterzuentwicklen. Mit Sprühdose und Wandfarbe setzt er dann seine geplanten Bilder um. BOE arbeitet mittlerweile gerne in Form von Projekten bzw Projektserien, für die er zu Beginn einige formale Parameter festlegt. Innerhalb dieser Parameter entwickelt er dann neue Prototypen. Prototyp kann man hier als Vorab-Exemplar einer kleinen Serie ähnlicher Pieces oder als Arbeitsmodell einer neuen Erfindung für ein Piece verstehen.

BOE experimentiert aber schon vorab, vor dem Akt des Malens. Er entwickelt zeichnerisch zuhause seine Form- und Farb-Ideen von neuen Prototypen, bevor er damit an eine Wand geht. Ein funktionierender Prototyp wird dann anschließend nicht noch einmal bzw. nur wenige Male variiert. Denn die Wiederholung von gleichen Formen und Stilen interessiert den Künstler eher weniger, es geht ihm um die gestalterische Suche nach neuen Möglichkeiten für Pieces. Die Formen und Farben eines Bildes werden also im Vorfeld auf Papier schon klar definiert, aber immer neu ausverhandelt. BOE’s Arbeit ist grafischer Natur und meist bedacht, die Qualität in den Buchstabenformen beizubehalten und dabei gleichberechtigt an Aspekten der Gesamtkomposition, der Inszenierung des Pieces und der Entwicklung neuer Elemente, wie z.B. fragmentarischer Flächen und Texturen zu arbeiten.



No condition is permanent/Kein Zustand ist dauerhaft

In den 2010er Jahren setzt BOE seine Recherchen weiterhin fort und definiert wiederholt ein rechteckiges Querformat auf einer Wandfläche für den Hintergrund, den er einfarbig bemalt und als Art Leinwand für seine Kompositionen im urbanen oder ruralen Umfeld grundiert. 2015 startet er ein Projekt mit dem Ziel, die Ergebnisse seiner Arbeit in einer Publikation zusammenzufassen. Zu Beginn des Projekts legt er einige Parameter fest, um mit diesen eine bestimmte Atmosphäre zu erzeugen. So definiert er z.B. einen Farbkanon, auf den er in jedem Piece in anderer Zusammenstellung zurückgreift. Und er legt weitere Stilmittel, wie z.B. einige Formparameter und die rechteckige Außenform fest. Es geht ihm in der abstrakten Serie darum, durch die Wahl der Mittel und Experimentierfreude „eine rau-warme Atmosphäre zu erzeugen, nahbare Schlichtheit walten zu lassen und den inneren Soul zum Klingen zu bringen“. Inspiriert wurde er dabei auch durch malerische Aspekte eigener Fotografien, die auf Streifzügen durch verschiedene Städte entstanden und durch die warmen analogen Klänge der Rock Steady- und High Life-Musik aus den 60er/70er Jahren. In der Publikation „No condition is permanent“, erschienen bei Hitzerot 2019, präsentiert er diese Arbeiten neben einer Reihe von Fotografien in drei Heften.



BOE schreibt für diese drei Hefte folgende Zeilen, die einiges über seine Auffassung von Verbindungen zwischen Graffiti, Grafikdesign und Malerei beinhalten: „Die Sprühdose ist ein unschuldiges Werkzeug zum Auftragen von Farbe. Malerei ist nach einer Überlegung des Malers Daniel Richter die Organisation von Farbe. Formen dienen als Träger von Farbe. Buchstaben, falls vorhanden, sind Formen. Fotos frieren Momente ein. Stimmung, unsolider Zustand, Dinge, die sich untereinander verschieben. Und Farbe tragen. (klar, erzählen sie auch und repräsentieren). Farben, die repräsentieren und gleichzeitig was ganz anderes sollen. Mal Parameter setzen wie bei einem Album. Grafik ist nicht Design. Was ist denn der Sound, der mir fehlt – morgen sind sie weg. Irgendwie sollte Wärme entstehen.“



instagram.com/boe_berlin
hitzerot.com/product/boe

Katia Hermann
French-German art historian, curator and writer. After her studies of art history and cultural management in Paris, Katia moved to Berlin in 2001. For twenty years, she has worked as a freelance exhibition-maker/curator, cultural manager, writer and translator. After working for documentary film- and exhibition productions, she curated thematic exhibitions of modern & contemporary art and photography for institutions, project spaces and galleries. She always endeavors to promote artists with contemporary relevant topics, new visual languages, and tries to mediate to a wide public. After her research grant for fine arts with the topic Urban Art Berlin (Berliner Senate Department of Culture and Europe) in 2017, she initiated and coordinated the Urban Art Week in Berlin in 2018 and 2019. The photo exhibition BERLIN: WRITING GRAFFITI started 2019 to tour to Brussels with a publication. Beside her curatorial practice, Katia gives art tours and writes about urban art, contemporary art, and in particular about post-graffiti painters for magazines and blogs.

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