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ISHEM – Frei komponieren und sich selbst überraschen

, by Katia Hermann

Turbulente Jugend

Der in Marseille lebende französische Künstler ISHEM (geb. 1986), begann im Alter von 12 Jahren sich für Style Writing zu interessieren. Er wuchs im Süden Frankreichs, in Aix-en-Provence auf, wo bereits einige Writer aktiv waren. Damals war die 132-Crew und die C4-crew in Südfrankreich sehr einflussreich, vor allem die Writer ARONE, ACUZ, LAWET und TRANE, sowie der Writer LIME, SEK und die NAV-Crew inspirierten ISHEM zu dieser Zeit. ISHEM malte damals INDE und PESTE und war Mitglied der Crew BCP (Bande de Chacals Puants) mit SONE, ARABIE, KISE (VADOR), SOWI u.a. (…). Er realisierte vor allem an Halls in der Stadt Wild Style pieces als PESTE und für sein Pseudonym INDE eher Block Letters und Throw Ups. Seine jüngere Schwester PEKIN ging damals oft mit malen. Im Jahr 2000 zog er auf die Insel Guadeloupe, das französische Überseedepartement in der südlichen Karibik, wo er im Umfeld der dortigen Hip-Hop-Szene von Rappern, Tänzern und Writern wie BADGE die Crew DTR (Double Tranchant) repräsentierte. Er erweiterte die BCP-Crew mit neuen Kontakten im Graffiti, wie mit RONE und EMIR2. Schon damals war ISHEM Basketballspieler, eine Leidenschaft für einen Sport, die ihn heute noch antreibt. Im Sommer pendelte er zwischen Frankreich und den Antillen und zog 2005 nach dem Abitur zurück nach Aix-en-Provence. Nach einem Jahr ging er zurück nach Guadeloupe für ein Jahr, um anschließend in Nantes, in der Bretagne, drei Jahre lang an der Ecole des Beaux Arts zu studieren.



Neue Experimente und neue Verbindungen

Müde vom Wild Style und Graffiti generell, nahm er sich eine Auszeit vom Style Writing. ISHEM wollte sich zu der Zeit befreien, mehr experimentieren und versuchte sich in Malerei, Fotografie und Video. Es war eine Übergangsphase der Suche und eine Öffnung zu anderen Kunstformen. Er bekam die Möglichkeit, ein Masterstudium an der Ecole des Beaux Arts d’Angers zu absolvieren und zog in die kleine Stadt im Westen Frankreichs. Dort traf er COR21 aus der Guadeloupe wieder und begann mit ihm erneut mit dem Graffiti Writing, allerdings in einem anderen Stil. Dort lernte er auch BISE (Alexis Poline) kennen, der ihn mit seinem minimalistischen Stil sehr beeindruckte. An den Halls der Stadt Angers experimentierte ISHEM zusammen mit HYOTA, SEMOR, COR21 und BISE mit neuen Formen von Graffiti. Damals ließ sich ISHEM von Textilkunst, geometrischen Motiven, Mode, den Farben der Karibik und der Strukturierung von Basketballplätzen inspirieren. Es war eine Zeit der Entwicklung neuer Konzepte und auch der Suche von mystischen, esoterischen Motiven. 2011/2012 formierte sich die Crew MODERNE JAZZ um GSULF und TORPEN, zunächst mit sechs Writern. Heute zählt die Crew mehr als 20 Writer. Die ersten waren BISE, TORPEN, DJOB, FRIDA, GSULF und ROYER (YOR81). Später kamen unter anderem L’OUTSIDER, OBISK, CHRIST, AKBAR, NOTEEN, MATTI, MASE und ISHEM selbst hinzu. Die Mitglieder leben in verschiedenen Städten, es handelt sich also um eine überregionale Crew. Sie reisten oft gemeinsam und trafen sich regelmäßig in Städten wie Brest, Rennes, Paris, Angers und Marseille. Die Mitglieder von MODERNE JAZZ arbeiten alle in ihrer eigenen Bildsprache und experimentieren viel mit Abstraktion. Es geht um Erneuerung, der bildnerischen Recherche und den spielerischen Ansatz, Graffiti in neue unbekannte Formen zu verwandeln.



Entwicklung in Marseille

Geprägt durch die Orte und Bekanntschaften der drei ersten Phasen in Aix-en-Provence, der Gouadeloupe und Nantes/Angers, startet ISHEM Ende 2013 nach seinem Studium seine vierte Lebens- und Schaffensphase in Marseille. In der sonnigen Stadt im Süden Frankreichs lernt er ELIOTE, HAMS, YOR81 (ROYER), FINER und YMMOT kennen, mit denen er bis heute befreundet ist und malen geht. In Marseille fühlt sich ISHEM befreiter, in dieser großen Stadt fängt er wieder vermehrt an zu taggen und sich neu auszuprobieren, denn das urbane und ländliche Umfeld öffnet ihm neue Möglichkeiten und Horizonte. 2014/2015 beschäftigt sich ISHEM vor allem mir den Außenformen eines Pieces. Grosse runde Formen, minimale Linien deuten Umrisse an, es geht ihm vermehrt um Konstruktion und Dekonstruktion der Buchstaben und minimale Mittel. Er malt nicht nur ISHEM, sondern auch ISH und ISH8. Denn die 8 ist seine Nummer als Basketballspieler, die er oft auch spielerisch in seine Pieces setzt. Später im Jahr 2017 entwickelt er das Tag YY, welches für YinYang steht, und später seine Crew aus Freunden – die crew YYinternational – symbolisiert.



ISHEM zeichnet viel, um neue Ideen festzuhalten, malt aber seine Pieces/Wandbilder immer ohne Skizze. Mit Acrylfarbe, Tinte, Nussbeize, Rolle, Pinsel, Zerstäuber und Sprühdose arbeitet er mit dunklen und hellen Kontrasten, Tönen dazwischen und mit großflächigen intensiven Farben wie rot oder blau. Sein Malprozess ist sportlich, mit körperlichem Einsatz malt er meist zügig und manchmal sogar mehrere Pieces nebeneinander als Serie. Mit seinem Wissen und seiner Erfahrung der letzten 20 Jahre beginnt er, die Wand zu bemalen, im Freestyle ohne Methode, geleitet am Tag selbst von seiner Energie, Stimmung und Inspiration des Augenblicks. Manchmal beginnt er in der Mitte, am Ende, es gibt keine Regel. Es geht ihm darum, spontan und ohne Automatismus zu arbeiten, sich frei zu entfalten und sich vom unbekannten, für ihn selbst geheimnisvollen Ergebnis überraschen zu lassen.



Die nichtleserliche Komponente im Wild Style inspiriert ISHEM weiterhin, er arbeitet immer wieder an der Außenform mit der Intention neue Formen zu generieren und zu variieren. Er bedient sich weiterhin des Vokabulars des Style Writing mit Tropfen, Pfeilen, Umrissen, denn von der grafischen Sprache der Buchstaben ausgehend, kann man überall hin, laut ihm, durch Verstecken, Sichtbarmachung, Rekonstruieren, Assoziieren, Abstrahieren, das Bilden von Hybriden und die Komposition mit Formen und Farben: das Spiel mit Formen ist quasi unendlich.

In Marseille sind ISHEM’s Lieblingsort zum Malen die Kanalisationen, ein mysteriöser und magischer Ort, der auch extrem fotogen ist und viele Kilometer lang kahle Flächen bietet. Dort malt er am Tag oder in der Nacht großformatige Pieces, für die er dank seiner Körpergröße von 1, 86m eigentlich nur auf Farbeimer steigen muss und selten eine Leiter verwendet. Seine teils rätselhaften Arbeiten entfalten gerade dort ganz besonders ihre Kraft und Energie auf poetische und geheimnisvolle Weise.



Atelierpraxis

Seit vielen Jahren malt ISHEM zudem in Mischtechnik mit Acryl, Kreide, Aquarell und Stiften auf Papier, oder auf gegossenen Beton/Zement und produzierte Installationen für Ausstellungen in 2014, wo er sich mit seinem Sport beschäftigte, dem Basketball in Zusammenhang mit Graffiti. 2018 schuf er eine Serie von in Zement gegossenen kleine Platten für seine Soloausstellung „Chercheur-cueilleur“ (Forscher und Pflücker), die er beidseitig bemalte und an Fels und Höhlenmalerei erinnern. Laut ISHEM fordert die Wahl der kleinen Formate auf zum Wesentlichen im Ausdruck zu gelangen, genauso wie es auch großformatige Wände herausfordern.

ISHEM ist immer schon gerne draußen unterwegs, macht Wanderungen in der Natur, wo er kleine Arbeiten hinterlässt oder sich auch für Arbeiten in der Natur bedient. 2018 hinterließ er Gravierungen in gegossenen Zement, um diese mit Pauspapier abzupausen und als Frottage mitzunehmen. Auch Abdrücke des Bodens in der Natur nahm er mit, um damit neue Studioarbeiten zu schaffen.

Der französische Writer ISHEM ist immer und weiterhin auf der Suche nach Erneuerung und überrascht mit seiner ganz eigenen Bildsprache und kraftvollen Arbeiten, die er in 20 Jahren durch die verschiedenen Schaffensphasen an mehreren Orten, mit verschiedenen Graffiti Künstlern und durch diverse Einflüsse entwickelt hat.



instagram.com/ishem8

Katia Hermann
French-German art historian, curator and writer. After her studies of art history and cultural management in Paris, Katia moved to Berlin in 2001. For twenty years, she has worked as a freelance exhibition-maker/curator, cultural manager, writer and translator. After working for documentary film- and exhibition productions, she curated thematic exhibitions of modern & contemporary art and photography for institutions, project spaces and galleries. She always endeavors to promote artists with contemporary relevant topics, new visual languages, and tries to mediate to a wide public. After her research grant for fine arts with the topic Urban Art Berlin (Berliner Senate Department of Culture and Europe) in 2017, she initiated and coordinated the Urban Art Week in Berlin in 2018 and 2019. The photo exhibition BERLIN: WRITING GRAFFITI started 2019 to tour to Brussels with a publication. Beside her curatorial practice, Katia gives art tours and writes about urban art, contemporary art, and in particular about post-graffiti painters for magazines and blogs.

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